EuG: EU muss zwei Unternehmen Schadenersatz wegen überlanger Verfahrensdauer vor dem EuG zahlen

Die Europäische Union muss zwei Unternehmen (Gascogne und seiner Tochter Gascogne Sack Deutschland) etwa 57.000 Euro wegen überlanger Dauer des Verfahrens vor dem Gericht der Europäischen Union zahlen. Dies hat das EuG mit Urteil vom 10.01.2017 entschieden. Es handelt sich um die erste Rechtssache dieser Art, die entschieden wurde (Az.: T-577/14).

EuG wies Klagen gegen Kartellgeldbußen erst nach fast sechs Jahren ab

Die Unternehmen Gascogne Sack Deutschland (vormals Sachsa Verpackung) und Gascogne (vormals Groupe Gascogne) erhoben im Februar 2006 beim EuG Klagen auf Nichtigerklärung einer Entscheidung der Kommission, mit der gegen die beiden Unternehmen wegen Beteiligung an einem Kartell für industrielle Sackverpackungen eine Geldbuße von insgesamt 13,2 Millionen Euro verhängt worden war. Das Gericht wies diese Klagen Ende 2011 ab. Der mit den Rechtsmitteln befasste EuGH bestätigte Ende 2013 die Urteile des Gerichts (BeckRS 2013, 82216 sowie BeckRS 2013, 82221).

Unternehmen klagten wegen überlanger Verfahrensdauer auf vier Millionen Euro Schadenersatz

Der EuGH wies jedoch darauf hin, dass die beiden Unternehmen wegen der überlangen Dauer des Verfahrens vor dem EuG auf Ersatz eventueller Schäden klagen könnten. Die beiden Unternehmen beantragten daraufhin beim EuG, die Europäische Union zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von fast vier Millionen Euro für materielle Schäden (knapp 3,5 Millionen Euro) und für den immateriellen Schaden (500.000 Euro) zu verurteilen, die sie aufgrund der überlangen Dauer des Verfahrens erlitten hätten.

EuG: EU muss 57.000 Euro Schadenersatz wegen überlanger Verfahrensdauer zahlen

Das EuG hat der Klage der beiden Unternehmen teilweise stattgegeben. Es hat Gascogne für den erlittenen materiellen Schaden Schadenersatz in Höhe von 47.064,33 Euro und jedem der beiden Unternehmen für den immateriellen Schaden Schadenersatz in Höhe von 5.000 Euro zugesprochen. Laut EuG waren alle drei Voraussetzungen einer außervertraglichen Haftung der EU (rechtswidriges Verhalten des betreffenden EU-Organs, tatsächlich vorliegender Schaden, Kausalzusammenhang zwischen Verhalten und geltend gemachtem Schaden) erfüllt.

Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt

Die erste Voraussetzung sei erfüllt, da das in der EU-Grundrechtecharta verankerte Recht auf eine Entscheidung einer Rechtssache innerhalb angemessener Frist verletzt worden sei, so das EuG. Denn die Verfahrensdauer habe sich auf fast fünf Jahre und neun Monate belaufen und lasse sich durch keinen der Umstände dieser Rechtssachen rechtfertigen.

In Kartellsachen 15 Monate zwischen schriftlichem und mündlichem Verfahren angemessen

Nach Ansicht des Gerichts ist bei Kartellsachen mit Blick auf deren höhere Komplexität im Vergleich zu anderen Verfahrensarten eine Dauer von 15 Monaten zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens grundsätzlich angemessen. In den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 hätten jedoch 46 Monate zwischen diesen Verfahrensabschnitten gelegen. Die parallele Bearbeitung im Zusammenhang stehender Rechtssachen könne aber eine Verlängerung des Verfahrens um einen Monat pro zusätzliche Rechtssache rechtfertigen.

Angemessene Verfahrensdauer um 20 Monate überschritten

Das EuG hält im vorliegenden Fall durch die parallele Bearbeitung von zwölf Klagen gegen dieselbe Kommissionsentscheidung eine Verlängerung des Verfahrens in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 um elf Monate für gerechtfertigt. Es schließt daraus, dass eine Dauer von 26 Monaten (15 Monate plus elf Monate) zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens für die Bearbeitung der Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 angemessen gewesen sei. Somit ergebe sich in jeder der beiden Rechtssachen ein Zeitraum ungerechtfertigter Untätigkeit von 20 Monaten. Das übrige Verfahren in diesen beiden Rechtssachen weise dagegen keinen weiteren Zeitraum ungerechtfertigter Untätigkeit auf.

Materieller Schaden durch Bankbürgschaft bei Gascogne

Das EuG sieht auch einen Schaden gegeben. Gascogne sei ein materieller Schaden entstanden. Denn das Unternehmen habe im Verlauf des Zeitraums der ungerechtfertigten Untätigkeit des Gerichts Verluste durch die Kosten für eine Bankbürgschaft zugunsten der Kommission erlitten. Die übrigen von Gascogne Sack Deutschland und Gascogne geltend gemachten materiellen Schäden hat das EuG hingegen nicht anerkannt.

Kausalzusammenhang zwischen rechtswidrigem Verhalten und geltend gemachtem Schaden gegeben

Auch liege ein Kausalzusammenhang zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem geltend gemachten Schaden vor. Denn hätte das Verfahren in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 nicht die angemessene Urteilsfrist überschritten, hätte Gascogne die Kosten für die Bankbürgschaft in dem Zeitraum, der dieser Überschreitung entspreche, nicht zahlen müssen.

Immaterieller Schaden wegen längerer als üblicher Ungewissheit bejaht

Das Gericht hat wegen der überlangen Dauer des Verfahrens in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 außerdem einen immateriellen Schaden der beiden Unternehmen bejaht. Denn die Nichteinhaltung der angemessenen Urteilsfrist in diesen Rechtssachen sei geeignet gewesen, die beiden Unternehmen in einen Zustand der Ungewissheit zu versetzen, die über die Ungewissheit hinausgegangen sei, die üblicherweise durch ein Gerichtsverfahren hervorgerufen werde. Dieser verlängerte Zustand der Ungewissheit habe zwangsläufig einen Einfluss auf die Planung der zu treffenden Entscheidungen und auf die Führung dieser Unternehmen gehabt, sodass er zu einem immateriellen Schaden geführt habe.

EuG, Urteil vom 10.01.2017 - T-577/14

Redaktion beck-aktuell, 11. Januar 2017.

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