Verbraucherschutz ist ein zentrales Thema der EU-Kommission und ein Gebiet, auf dem sie sehr oft gesetzgeberisch tätig wird – zu oft, wenn es nach Kritikerinnen und Kritikern des mutmaßlichen Brüsseler Regulierungswahns geht. Zu wenig Verbraucherschutz zu wollen, ist indes ein Vorwurf, den man sich im Berlaymont-Gebäude eher selten anhören muss. Nun aber sorgte ein Artikel in der Bild-Zeitung für Aufruhr, wonach sich die polnische Ratspräsidentschaft vorgenommen hat, das inzwischen mehr als zehn Jahre alte Vorhaben einer Reform der Fluggastrechte-Verordnung ((EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte-VO) wiederzubeleben.
"Flug-Verspätung? Die EU dreht den Geldhahn zu", titelte die Bild und sprach im Artikel von einem "Mega-Kahlschlag" bei den Fluggastrechten. Der Grund für die Aufregung: eine Neu-Staffelung der Entschädigungen für Flugverspätungen. Nach bisherigem Stand sieht die Fluggastrechte-VO vor, dass ab einer Verspätung von drei Stunden am Zielort mindestens 250 Euro Entschädigung an Flugreisende fließen, bei Entfernungen ab 1.500 km 400 Euro und ab 3.500 km 600 Euro. Auch für Ausfälle gibt es Entschädigungen.
Der nun diskutierte Entwurf sieht dagegen eine neue Staffelung vor, wonach es frühestens ab fünf Stunden Verspätung – je nach Strecke erst ab neun oder zwölf Stunden – eine Entschädigung geben soll. Zudem würde sie mit 300, bzw. 500 Euro geringer ausfallen. "Das ist ein Kniefall vor der Luftfahrtlobby" kritisierte im Bild-Artikel Jan-Frederik Arnold, CEO der Allright Group, zu der auch der Fluggastrechte-Dienstleister Flightright gehört.
Doch was ist dran an der Empörung? So viel vorweg: Die Reform hat noch einen langen Weg im Gesetzgebungsverfahren vor sich. Sie geht zurück auf eine Initiative der Kommission von 2013 (!), die zwar von Ministerrat und Parlament ausgiebig diskutiert worden, danach jedoch wieder versandet war. Ein zweiter Versuch wurde durch die Corona-Pandemie erstickt. Nun will der Rat unter polnischer Präsidentschaft einen dritten Anlauf wagen. Dazu hat er bereits im Dezember seine Verhandlungsposition festgelegt, die schon im Juni beschlossen werden könnte. Diese Position muss dann aber noch im Trilog zwischen Rat, Kommission und Parlament verhandelt werden.
EU will Entschädigungsansprüche effektiver durchsetzbar machen
Wirft man einen Blick in die Pläne, so scheinen sie erst einmal nicht die Kettensäge an die Fluggastrechte anzulegen. Zwei Hauptprobleme nimmt sich der Vorschlag, der beck-aktuell vorliegt, explizit zur Brust: Erstens Mängel bei der Umsetzung und Durchsetzung von Fluggastrechten, die nach Ansicht der Kommission verhinderten, dass Fluggäste ihre Rechte vollständig wahrnehmen könnten. Und zweitens das Recht auf Erstattung der vollen Kosten eines Flugscheins bei nicht durchgeführten Flügen, insbesondere bei Buchungen über Vermittler.
Der Vorschlag zielt nach eigenem Bekunden weniger darauf ab, neue Fluggastrechte zu schaffen, als die Durchsetzung der bestehenden in allen Mitgliedstaaten zu verbessern. Dazu will er ein effektives Beschwerdesystem schaffen (z.B. durch Offenlegung des Beschwerdeverfahrens mit bindenden Fristen bereits bei der Buchung) sowie strengere Durchsetzungs-, Überwachungs- und Sanktionsmaßnahmen einführen, wie z.B. eine jährliche Berichtspflicht der Mitgliedstaaten an die Kommission.
Zudem soll ein klares Erstattungsverfahren für Buchungen über Vermittler eingeführt werden. Vereinzelt werden jedoch auch zusätzliche Fluggastrechte eingeführt (z.B. das Recht auf Umbuchung auf einen Flug einer anderen Fluglinie). Außerdem sind kleinere Maßnahmen für Handgepäck und Barrierefreiheit vorgesehen, ebenso eine Begriffsbestimmung zum "anerkannten Assistenzhund".
Schließlich geht es im Entwurf um sogenannte multimodale Reisen, also solche, bei denen Passagiere während einer Reise zwischen verschiedenen Verkehrsträgern wechseln. Bucht jemand also eine Reise, die sowohl einen Transport per Zug als auch per Flugzeug einschließt, ist die Zugfahrt bislang nicht vom Entschädigungsanspruch umfasst. Das soll sich nun ändern.
85 Prozent der Entschädigungsansprüche dürften entfallen
Eigentlich ein Fortschritt für die Fluggastrechte also – könnte man meinen. Doch trotzdem trifft der Vorschlag auf Kritik – auch aus Ecken, wo kein Geld mit Ersatzansprüchen verdient wird. So kommentierte bereits der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) das Vorhaben: "Die drohenden Änderungen der Fluggastrechte wären eine ziemliche Bruchlandung für die geltenden Rechte der Flugreisenden", wird Jutta Gurkmann, Geschäftsbereichsleiterin Verbraucherpolitik des vzbv, in einer Mitteilung ihres Verbands zitiert. Der aktuelle Vorschlag der Kommission sei "eine Zumutung und darf nicht durchkommen. In den meisten Fällen würden dann keine Ansprüche mehr bestehen und die Flugreisenden leer ausgehen", sagt Gurkmann. Der vzbv verweist dazu auf eine Auswertung, wonach unter der Annahme der neuen Verspätungsschwellen rund 85 Prozent der Reisenden in Zukunft bei Verspätungen ihren Anspruch auf Entschädigung verlieren würden.
Aber ist es für Verbraucherinnen und Verbraucher nicht unter dem Strich vorteilhaft, wenn sie ihre Rechte besser durchsetzen und womöglich noch eher am Zielort ankommen können, als ein paar Euro Entschädigung zu kassieren? Schließlich ließe sich – so wird das auch in der Kommission gesehen – argumentieren, dass die höheren Schwellen für Entschädigungsansprüche einen Anreiz schaffen, Flüge doch noch durchzuführen, statt Passagiere einfach umzubuchen. Denn drei Stunden sind meist zu kurz, um einen Flug doch noch durchzuführen, etwa, wenn ein Ersatzflieger herbeimuss. Hierzu hatte der vzbv das Institut Forsa jedoch bereits mit einer Umfrage betraut. Danach erwarten 90 Prozent der Fluggäste bei einer Verspätung eine angemessene Entschädigung. Die Präferenz der Betroffenen scheint damit klar.
Airlines können häufiger "außergewöhnliche Umstände" geltend machen
Doch in dem Entwurf versteckt sich noch ein weiterer, vielleicht sogar bedeutenderer Fallstrick: der Anhang zu den sogenannten außergewöhnlichen Umständen. Das sind z.B. Extremwetterereignisse, auch bekannt als höhere Gewalt. Kann sich eine Fluglinie hierauf berufen, entfällt der Entschädigungsanspruch der Passagiere (vgl. Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO). Die Definition dieser Umstände soll nach dem gegenwärtigen Entwurf merklich aufgeweicht werden. Nicht nur fehlt plötzlich das "Extrem-" vor Wetter, außerdem zählen künftig auch technische Probleme und die Erkrankung von Kabinenpersonal zu den außergewöhnlichen Umständen, ebenso wie Streiks des eigenen Airline-Personals. Damit würden die Möglichkeiten der Beförderer, sich den Entschädigungsansprüchen gänzlich zu entziehen, deutlich anwachsen.
Die Bilanz der materiellen Rechte für Fluggäste sieht also nach dem gegenwärtig vorliegenden Entwurf einigermaßen verheerend aus. Die Kommission, von welcher der nun im Rat konsentierte Entwurf im Wesentlichen stammt, gibt sich auf beck-aktuell-Nachfrage zugeknöpft und betont lediglich, man würdige "die Bemühungen des polnischen Ratsvorsitzes, die Beratungen des Rates über ihren Vorschlag von 2013 zu den Fluggastrechten wieder aufzunehmen", wie eine Sprecherin mitteilt. "Das Ziel der Kommission bleibt unverändert: die bestehenden Rechtsvorschriften zu aktualisieren, um einen wirksamen Schutz der Fluggäste zu gewährleisten und gleichzeitig den Fluggesellschaften ausreichende betriebliche Flexibilität zu gewähren und eine unverhältnismäßige finanzielle Belastung zu vermeiden."
EuGH zog die Linie bei drei Stunden
Glaubt man dem vzbv oder auch dem ADAC, die beide im Konsultationsverfahren des Bundesjustizministeriums Stellungnahmen eingereicht haben, geht der Kommissionsvorschlag jedoch genau in die entgegengesetzte Richtung. Nicht nur sei es unangemessen, die Hürden für Entschädigungen zu erhöhen, auch wichtige Themen wie der Schutz vor Insolvenzen von Fluggesellschaften, oder automatisierte Entschädigungen würden nicht angegangen. Flightright weist zudem darauf hin, dass eigentlich eine Erhöhung der Entschädigungsbeträge angezeigt wäre, wurden diese doch seit Inkrafttreten der Verordnung im Jahr 2004 nie an die Inflation angepasst.
Im Übrigen weist der ADAC darauf hin, dass die Reform nicht nur verbraucherfeindlich sei, sondern auch nicht nur Rechtsprechung des EuGH passe.* Denn die Entschädigungsansprüche gab es nach europäischem Recht und dem Wortlaut der Fluggastrechte-VO zunächst nur für annullierte Flüge, was der EuGH mit seinem Sturgeon-Urteil 2009 änderte (Urteil vom 19. 11. 2009 - C-402/07). Auch erheblich verspätete Flüge müssten eine Entschädigung nach sich ziehen, urteilten die Luxemburger Richterinnen und Richter damals. Was erheblich bedeutet, stellten sie ebenfalls klar: Sie sollten einen Ausgleichsanspruch geltend machen können, "wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d.h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen".
*Anm. d. Red.: In einer früheren Fassung hieß es, der ADAC halte die Reform deshalb für rechtswidrig. Der ADAC hält sie jedoch wegen der Inkongruenz mit der bisherigen Rechtsprechung nicht für rechtswidrig, sondern weist lediglich auf den Widerspruch hin (geändert am 22.05.2025, 13:15 Uhr, mam)