EU-Kommission leitet Verfahren gegen Polen wegen Justizreform ein

Im Streit um die polnische Justizreform verschärft die EU-Kommission ihr Vorgehen gegen die nationalkonservative Regierung in Warschau. Wegen des jüngsten Gesetzes zur Disziplinierung von Richtern hat die Brüsseler Behörde ein Vertragsverletzungsverfahren gegen das Land eingeleitet, wie Justizkommissar Didier Reynders am 29.04.2020 auf Twitter mitteilte. Trotz internationaler Kritik am ungarischen Notstandsgesetz in der Corona-Krise lässt Brüssel Ungarn hier vorerst gewähren. Das Europaparlament hatte die EU-Kommission Mitte April 2020 aufgefordert zu prüfen, ob die ungarischen Sofortmaßnahmen den EU-Verträgen entsprächen und andernfalls dagegen vorzugehen.

Unabhängigkeit polnischer Richter wird untergraben

Aus Sicht der EU-Behörde verstößt das polnische Gesetz zur Disziplinierung von Richtern gegen EU-Recht. Es untergrabe die Unabhängigkeit polnischer Richter und stimme nicht mit dem Vorrang von EU-Recht überein, schrieb Reynders. Vizekommissionschefin Vera Jourova sagte, es bestehe das Risiko, dass das Gesetz "unter anderem zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen verwendet werden" könne. Richter aus anderen EU-Staaten müssten sich auf die Unabhängigkeit polnischer Kollegen verlassen können.

Richtern drohen Geldstrafen, Herabstufung oder Entlassung

Konkret geht es um ein Gesetz, das Mitte Februar 2020 in Kraft getreten ist. Es sieht vor, dass Richter mit Geldstrafen, Herabstufung oder Entlassung rechnen müssen, wenn sie die Entscheidungskompetenz oder Legalität eines anderen Richters, einer Kammer oder eines Gerichts infrage stellen. Auch dürfen sie sich nicht politisch betätigen.

Klage vor EuGH droht

Falls Polen nicht einlenkt, könnte die Kommission das Land erneut vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. Zunächst hat die polnische Regierung nun jedoch zwei Monate Zeit, schriftlich auf die Bedenken zu antworten.

Bislang wenig Einsicht aus Warschau

In der Vergangenheit zeigte Warschau sich allerdings wenig einsichtig. Die Beziehungen zwischen der EU-Kommission und der polnischen nationalkonservativen Regierungspartei PiS sind schon lange angespannt. Die PiS baut das Justizwesen des Landes seit Jahren umfassend um. Kritikern zufolge setzt sie Richter somit unter Druck. Die EU-Kommission überwacht in der Staatengemeinschaft die Einhaltung von EU-Recht und hat bereits mehrere Verfahren eingeleitet.

Rechtsstaatsverfahren eingeleitet

2019 entschied der Europäische Gerichtshof etwa, die Zwangspensionierung polnischer Richter am Obersten Gericht sowie an ordentlichen Gerichten verstoße gegen EU-Recht. Vor drei Wochen entschied der EuGH, dass die polnische Disziplinarkammer zunächst ihre Arbeit aussetzen müsse, weil sie möglicherweise nicht unabhängig sei. Auch leitete die EU-Kommission 2017 ein Rechtsstaatsverfahren nach Art. 7 der EU-Verträge gegen Polen ein. Damit können einem Staat bei Verstößen gegen EU-Grundrechte Stimmrechte entzogen werden. Das Verfahren stockt jedoch.

Kein Einschreiten gegen ungarisches Notstandsgesetz

Trotz internationaler Kritik am ungarischen Notstandsgesetz in der Corona-Krise will die EU-Kommission hier indes vorerst nicht einschreiten. Dies bestätigte Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova am 29.04.2020. Zuvor hatte die Tageszeitung "Die Welt" darüber berichtet.

Kein Anlass für Vertragsverletzungsverfahren

Jourova sagte, sie habe das ungarische Gesetz ausführlich analysiert und sehe im Text selbst keinen Anlass für ein Vertragsverletzungsverfahren. Doch gebe es schon lange große Sorge unter anderem über die Gewaltenteilung in Ungarn. Deshalb werde sie die Lage in dem EU-Staat sehr intensiv und "proaktiv" beobachten.

Sondervollmachten für Ministerpräsident Orban

Ungarns rechtsnationaler Ministerpräsident Viktor Orban hatte sich Ende März 2020 vom Parlament Sondervollmachten erteilen lassen. Damit kann Orban zunächst unbefristet per Dekret regieren. Zwar kann das Parlament ein Ende des Notstands beschließen. Doch bleibt es bei den Vollmachten, falls das Parlament verhindert ist. Zudem wurden Strafen für die Verbreitung von Falschnachrichten verschärft, sodass Journalisten um die kritische Berichterstattung fürchten.

Keine konkreten Anhaltspunkte für Verletzung demokratischer Grundrechte

Laut "Welt" kamen Rechtsexperten der Kommission zu dem Schluss, dass es keine konkreten Anhaltspunkte für die Verletzung demokratischer Grundrechte in Ungarn gebe. Deshalb seien keine unmittelbaren Gegenmaßnahmen aus Brüssel erforderlich. Die Kommission sei zwar besorgt über die Notstandsgesetzgebung und wolle die Umsetzung genau verfolgen. Doch hätten auch andere EU-Staaten, darunter Frankreich und Rumänien, starke Einschränkungen von Grundrechten beschlossen.

Redaktion beck-aktuell, 29. April 2020 (dpa).

Mehr zum Thema