EU einigt sich auf finanzielle Sanktionen bei Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit

Vertreter aus EU-Ländern und das Europaparlament haben sich am 05.10.2020 auf ein Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln bei bestimmten Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit geeinigt. Die Einigung birgt allerdings auch Risiken. Ungarn und Polen drohen, wichtige Entscheidungen für den langfristigen EU-Haushalt und das geplante Corona-Konjunkturprogramm zu blockieren.

Neuer Rechtsstaatsmechanismus Novum in EU-Geschichte

Mit dem neuen Rechtsstaatsmechanismus könnte es erstmals in der Geschichte der Europäischen Union möglich werden, die Missachtung von grundlegenden EU-Werten im großen Stil finanziell zu ahnden. Konkret soll dies zum Beispiel dann der Fall sein, wenn eine mangelnde Unabhängigkeit von Gerichten in einem Empfängerstaat den Missbrauch von EU-Mitteln ermöglicht oder ganz klar fördert. "Der neue Konditionalitätsmechanismus wird den Schutz des EU-Haushalts stärken", kommentierte der deutsche Botschafter Michael Clauß, der die Gespräche als Vertreter der derzeitigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft für die Regierungsseite führte. Nun gelte es auch die Verhandlungen über den langfristigen EU-Haushalt und das Corona-Konjunkturpaket schnell abzuschließen.

Polen und Ungarn drohen mit Blockade wichtiger EU-Entscheidungen

Vor allem dem mächtigen Chef der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban wurde zuletzt immer wieder vorgeworfen, ihren Einfluss auf die Justiz in unzulässiger Weise auszubauen. "Der Kuschelkurs mit Orban und Kaczynski ist beendet", kommentierte der FDP-Politiker Moritz Körner als Chefverhandler der liberalen Fraktion für das Dossier. Gerade deswegen birgt die Einigung allerdings auch politischen Sprengstoff. Die Regierungen in Ungarn und Polen haben bereits vor längerem mit einer Blockade von wichtigen EU-Entscheidungen zum Gemeinschaftshaushalt gedroht, sollte der Rechtsstaatsmechanismus wirklich eingeführt werden. Dies könnte auch dazu führen, dass das geplante Corona-Konjunkturprogramm der EU nicht starten kann.

Mechanismus auf Druck der EU-Abgeordneten nachgeschärft

Eine Mehrheit der EU-Staaten hatte Ende September 2020 aber dennoch dafür gestimmt, Verhandlungen mit dem Parlament über den Mechanismus zu beginnen. Auf Druck der Abgeordneten wird das Bestrafungsinstrument nun sogar schärfer werden, als es von der Mehrheit der EU-Staaten angedacht war. So erreichte das Parlament beispielsweise, dass Strafen zeitlich schneller verhängt werden können und dass schon dann gehandelt werden kann, wenn wegen Brüchen der Rechtsstaatlichkeit ein Missbrauch von EU-Mitteln droht. Der ursprünglich auf dem Tisch liegende Vorschlag sah vor, Kürzungen von EU-Finanzhilfen nur dann zu ermöglichen, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit "in hinreichend direkter Weise Einfluss" auf die Haushaltsführung und die finanziellen Interessen der Union haben.

Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit der EU-Staaten für Mittelkürzung bleibt

Die Regierungsseite blieb dafür allerdings beim Thema Entscheidungsverfahren hart. Mittel sollen demnach nur dann gekürzt werden können, wenn eine qualifizierte Mehrheit der EU-Staaten dies unterstützt. Das macht die Zustimmung von mindestens 15 Ländern notwendig, die zusammen mindestens 65% der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen. Das Parlament wollte eigentlich, dass ein Vorschlag für Mittelkürzungen der EU-Kommission schon dann als angenommen gilt, wenn der Ministerrat ihn nicht innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit abweist oder verändert.

EU-Abgeordneter: "Historischer Durchbruch"

Parlamentsvertreter zeigten sich dennoch zufrieden. Die CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier sprach von einem "historischen Durchbruch zugunsten der Rechtsstaatlichkeit im EU-Haushalt". Der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund sagte: "Der Mechanismus ist nicht so wirkmächtig, wie wir es uns im Europäischen Parlament gewünscht haben. Aber: Der Kompromiss ist deutlich stärker, als das, was die deutsche Ratspräsidentschaft vor einigen Wochen vorgelegt hat." Jetzt müssten die Mitgliedstaaten unter Beweis stellen, dass dieser Sanktionsmechanismus auch zur Anwendung kommen könne. Bevor der Mechanismus genutzt werden kann, muss er noch einmal offiziell vom Rat der Regierungen und dem Plenum des Parlaments bestätigt werden. Dies gilt nach der Einigung allerdings als Formalie. Wie der Konflikt mit Ungarn und Polen gelöst werden könnte, ist dagegen völlig offen. Kritik an ihrem Umgang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen weisen die Regierungen in Warschau und Budapest bislang kategorisch zurück.

Andere Verfahren ineffektiv

Ein Grund für das jetzt vereinbarte Vorgehen ist, dass sich andere Verfahren als wirkungslos erwiesen haben. So laufen gegen Polen und Ungarn bereits sogenannte Artikel-7-Verfahren der EU, die theoretisch sogar mit einem Entzug von EU-Stimmrechten enden könnten. Sie sind aber wegen großer Abstimmungshürden blockiert. Folge ist, dass Warschau und Budapest bislang kaum etwas unternommen haben, um aus Sicht anderer EU-Staaten gefährliche Entwicklungen im Bereich der Justiz und der Meinungsfreiheit zu stoppen.

Redaktion beck-aktuell, Ansgar Haase, 5. November 2020 (dpa).