Streit über geplante Ausweitung von Mehrheitsentscheiden in EU-Sozialpolitik
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Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in der Sozialpolitik der Europäischen Union wird unter Experten kontrovers diskutiert. Dies hat eine Anhörung des Europaausschusses im Bundestag gezeigt. Kritiker befürchten eine Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit und höhere Transferzahlungen. Als Alternative plädieren viele für das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit.

Kommission will Mehrheitsentscheidungen in EU-Sozialpolitik ausweiten

Die Kommission will bestehende Möglichkeiten in den Verträgen stärker nutzen, um die Beschlussfassung im Bereich Nichtdiskriminierung sowie die Annahme von Empfehlungen zur sozialen Sicherheit und zum sozialen Schutz von Arbeitnehmern zu erleichtern. Beim Kündigungsschutz, den Rechten der Sozialpartner und der Rechtsstellung von Nicht-EU-Arbeitnehmern soll es aber beim sogenannten besonderen Gesetzgebungsverfahren bleiben, bei dem der Rat einstimmig entscheidet.

Kritiker: "Gefährlicher Weg" und "Fehlanreize"

Explizit gegen Mehrheitsentscheidungen in der EU-Sozialpolitik sprachen sich in der Videokonferenz Michael Eilfort von der Stiftung Marktwirtschaft und Steffen Kampeter von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) aus. Eine subsidiär und dezentral auf der Ebene der Mitgliedstaaten organisierte Sozialpolitik weise gegenüber einer von der EU-Kommission "technokratisch" regulierten erhebliche Vorteile auf, betonte Eilfort. Sie sei transparenter, ermögliche passgenaue Regelungen und verbinde Entscheidungskompetenz mit haushalterischer Verantwortung. Eilfort sprach von einem "gefährlichen Weg" und verwies auf "gewachsene Unterschiede zwischen den sozialen Sicherungssystemen der Mitgliedstaaten". Europaweit geltende soziale Regelungen würden "Fehlanreize aussenden, sich aus fremden Töpfen zu bedienen".

EU nicht zu einem sozialpolitischen Akteur machen

Aus Sicht von Arbeitsgebervertreter Kampeter geht es bei dem Vorschlag in erster Linie darum, die Gestaltungsmöglichkeiten der Kommission auszuweiten. Der BDA lehne es jedoch ab, die EU zu einem sozialpolitischen Akteur zu machen und ihr etwa eine Mindestlohnkompetenz zuzusprechen. Statt durch mehr europäische Regulierung die Kosten für soziale Sicherung zu erhöhen, sollten Wachstum, Produktivitätssteigerung und Innovationen wieder stärker in den Fokus gerückt werden. Karl Albrecht Schachtschneider, Emeritus von der Universität Erlangen-Nürnberg, sagte, der Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in der Sozialpolitik würde einen wesentlichen Schritt zu einem europäischen Bundesstaat bedeuten. Angesichts des "Demokratiedefizits" in Europa müsse Sozialpolitik jedoch Aufgabe der Nationalstaaten bleiben. Der Kommission warf er vor, den Umbau Europas in eine Sozialunion zu betreiben. Für einen solchen Schritt sei aber eine Volksabstimmung notwendig.

Mehrheitsentscheidungen nur in manchen Bereichen

Frank Hoffmeister von der Universität Brüssel votierte dafür, nicht pauschal über den Vorschlag der Kommission zu urteilen, sondern nach Bereichen zu differenzieren. So habe die Kommission im Bereich der Diskriminierungspolitik bereits konkrete Richtlinien erlassen, eine allgemeine EU-Diskriminierungsrichtlinie sei nicht mehr notwendig. Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Bereich des sozialen Schutzes könne zudem die Ausgewogenheit der nationalen Sicherungssysteme beeinträchtigen, warnte er. Im Bereich der Integration von Drittstaatsangehörigen sprach sich Hoffmeister hingegen für den Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen aus. Wenn die EU sich als attraktives Gebiet im Wettbewerb um hochqualifizierte Arbeitnehmer halten wolle, so müsse sie auch die soziale Absicherung dieser Personen während ihres legalen Verbleibs zügig regeln können. Auch beim Kündigungsschutz gebe es keinen überzeugenden Grund, warum Einzelbereiche mit qualifizierter Mehrheit im Rat beschlossen würden, eine generelle Richtlinie zum Kündigungsschutz aber weiterhin der Einstimmigkeit unterliegen solle.

Berliner Professorin sieht Mehrwert für alle EU-Staaten

Miriam Hartlapp von der Freien Universität Berlin befürwortete qualifizierte Mehrheitsentscheidungen und warb insbesondere für ein neues EU-Instrument zur sozialen Mindestsicherung sowie eine rechtlich bindende EU-Anti-Diskriminierungspolitik. "Wir haben Veränderungen in der Arbeitswelt und Krisen, die beantwortet werden müssen", betonte sie. Gemeinsame Instrumente hätten einen Mehrwert für alle Mitgliedstaaten der EU, sagte Hartlapp mit Verweis auch auf das Wohlstandsgefälle in der EU, Sozialtourismus und Armutsmigration. Andreas Maurer (Universität Innsbruck) bezeichnete qualifizierte Mehrheitsentscheidungen als "erprobtes Instrument der Konsenserleichterung", das in der Europäischen Union aber nur sehr selten genutzt werde. Er stellte klar, Sozialpolitik sei "kein Sahnehäubchen", sie gehöre zum Binnenmarkt konstitutiv dazu.

DGB warnt vor Zerfall des europäischen Wohlfahrtsmodells

Susanne Wixforth vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und Isabelle Schömann vom Europäischen Gewerkschaftsbund warben ebenfalls für eine europäische Sozialpolitik. Mehr Konvergenz und gemeinsames Handeln seien "dringlicher denn je", sagte Wixforth, andernfalls drohe der Zerfall des europäischen Wohlfahrtsmodells. Sie betonte, mit dem Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen würden keine EU-Kompetenzen ausgeweitet, sondern lediglich bestehende Kompetenzen genutzt. Schömann sprach sich für Mehrheitsentscheide in allen Bereichen der Sozialpolitik aus, da Einstimmigkeit für jeden Mitgliedstaat ein faktisches Vetorecht bedeute. Die EU brauche jedoch eine starke Sozialpolitik, die für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der EU Fortschritte bringe "und nicht nur für Teile der Gesellschaft in Europa".

Redaktion beck-aktuell, 16. März 2021.