Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schilderte der Mann aus der Provinz Khost ein heikles Schicksal. Demnach gehört er dem Volk der Paschtunen an. Seine vier Schwestern und sechs Brüder sowie seine gesamte Großfamilie seien ebenso wie seine eigenen Kinder noch in dem Land am Hindukusch. Er sei nicht zur Schule gegangen und habe als Verkäufer in einem eigenen Geschäft mit Textilien gehandelt.
Aus Afghanistan sei er wegen der Taliban ausgereist: Sein Bruder, drei Cousins und sein Schwager seien im Oktober 2011 von denen in einem Auto angegriffen worden und gestorben. Auch er selbst sei von einem dieser islamistischen Terroristen bedroht worden, der zu seinem Stamm gehöre. Der Grund: Man habe ihn beschuldigt, mit den Ausländern zusammenzuarbeiten. Denn die Familie habe ein Lebensmittelgeschäft gehabt und auch Lebensmittel an die Amerikaner verkauft. Nach der Attacke habe er diese Arbeit aufgegeben, die Familie sei aus ihrem Heimatort fortgezogen und von den Taliban bedroht worden. Seither war der Mann demnach immer auf der Flucht und hat an verschiedenen Orten gewohnt.
"Durchsetzungsfähiger junger Mann"
Doch die Behörde lehnte seinen Asylantrag ab, auch erkannte sie ihm weder die Eigenschaft als Flüchtling noch den subsidiären Schutzstatus zu. Da keine Abschiebungsverbote vorlägen, forderte sie ihn auf, innerhalb von dreißig Tagen die Bundesrepublik zu verlassen, und drohte seine Abschiebung an.
Wie schon das VG Greifswald glaubte ihm auch das dortige OVG nicht. So befand die zweite Instanz in Mecklenburg-Vorpommern: Als "erwerbsfähiger, gesunder und durchsetzungsfähiger junger Mann", der keiner vulnerablen Personengruppe angehöre, wäre der Kläger im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan nicht wegen der dortigen humanitären Situation der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt.
Mit insgesamt 167 Randnummern würdigten die Richterinnen und Richter gleichwohl ausführlich seine Angaben ebenso wie die Lage in dem von den Taliban beherrschten Land – politisch, ökonomisch und sozial. So werde Frauen das Recht auf Bewegungsfreiheit und Bildung verwehrt. "Sie erfahren Einschränkungen beim Zugang zu Arbeit, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherung", heißt es in dem Urteil aus Greifswald: "Die Ungleichbehandlung der Geschlechter nimmt stetig zu."
Indem sie dennoch die Berufung abwiesen, wich das OVG von der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg, des Sächsischen OVG und des OVG Hamburg ab, wie sie selbst zu ihrer Beurteilung der "allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan" darlegen. "Die grundsätzliche Klärung dieser Tatsachenfrage erscheint dem Senat im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung angezeigt", schrieb der Senat zur Begründung dafür, dass er insofern die Revision zugelassen hat. Möglich geworden ist dies erst durch das "Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren" der rot-grün-gelben Koalition, das drei Tage vor dem Jahresende 2022 den Weg ins Bundesgesetzblatt fand.
"Rechtsprechungslotterie" vorbei
Es war eine Reform des Prozessrechts, nach der Fachleute gerufen hatten. "Letzte Tatsacheninstanz sind de lege lata die 15 Oberverwaltungsgerichte der Bundesländer", bemängelten bereits im Jahr 2017 die BVerwG-Richter Uwe Berlit und Harald Dörig. Folge sei eine Zersplitterung der Rechtsprechung auch in fallübergreifenden, allgemeinen Tatsachenfragen: "Gleiche Einzelschicksale führen je nach regionaler Gerichtszuständigkeit zu unterschiedlichen Ergebnissen." Die allein auf Rechtsfragen beschränkte Revision könne nicht zur Vereinheitlichung beitragen – für die Betroffenen führe dies zu einer Art "Rechtsprechungslotterie".
So sagte denn auch BVerwG-Präsident Andreas Korbmacher kurz nach seinem Amtsantritt im November 2022 der NJW, sein Gericht habe sich dieser schon lange diskutierten Änderung gegenüber aufgeschlossen gezeigt. "Es ist durchaus sinnvoll, wenn den OVGs die Möglichkeit eröffnet wird, bei unterschiedlichen Auffassungen (....) über allgemeine abschiebungs- oder asylrelevante Tatsachen das BVerwG anzurufen und diese Frage dort für alle klären zu lassen." Nun haben Deutschlands oberste Verwaltungsrichter die Gelegenheit dazu (Az. 1 C 12.23). Es ist erst die zweite Revision dieser Art, die in Leipzig eingetroffen ist: Die erste betraf den Fall einer in Italien als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Frau aus Somalia (Az.: 1 C 10.23).*
*Anm. d. Red.: Der Artikel wurde ergänzt (und die Überschrift angepasst) um den Hinweis auf die Tatsachenrevision in dem Fall aus Somalia. jja, 21.08.2023, 9:11 Uhr.