Erst Abtreibungsverbot und dann? Rolle rückwärts in den USA
Lorem Ipsum
© ASSOCIATED PRESS / Jose Luis Magana

Viele Menschen sind mit dem Glauben aufgewachsen, dass man hart erkämpfte Freiheiten nicht einfach wieder verlieren kann. Dass das nicht so sein muss, zeigt sich aktuell in den USA. Das Land der Freiheit hat gesellschaftspolitisch den Rückwärtsgang eingelegt. Dort hat der Supreme Court das Recht auf Abtreibung stark geschwächt. Einzelne Bundesstaaten reagierten umgehend.

Auch Recht auf sexuelle Freiheit oder Verhütung in Gefahr

"Wir wollen keinen Gottesstaat", brüllt ein Mann vor dem Supreme Court – dem Obersten Gericht der USA. Ein anderer mit einem Schild, auf dem "Jesus rettet" steht, brüllt zurück. Die Stimmung ist aufgeheizt. Zuvor hat der Supreme Court das landesweite Recht auf Abtreibung gekippt. Im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten", das wie kaum ein anderes für Freiheit steht, sind Abtreibungen nun in etlichen Bundesstaaten mit nur ganz wenigen Ausnahmen verboten. Eine Zäsur. Einer der Richter des Supreme Court rief offen dazu auf, nun auch die Rechte auf sexuelle Freiheit oder Verhütung zu überdenken. Im Jahr 2022. Was völlig absurd klingt, ist für viele eine reale Angst. Das liegt am Supreme Court. Und einer republikanischen Partei, die weit nach rechts gerückt ist.

Fast 50 Jahre geltendes Urteil außer Kraft gesetzt

Mit seiner Entscheidung vom Freitag hat das höchste US-Gericht ein Urteil außer Kraft gesetzt, das fast 50 Jahre lang galt. Die Entscheidung Roe v. Wade von 1973 hatte zuvor das Recht auf Abtreibung sichergestellt. Es ist eines der ganz seltenen Male in der amerikanischen Geschichte, dass das Gericht ein zuvor als verfassungsmäßig erklärtes Recht wieder zurücknimmt – und das gegen die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung. So einschneidend die Entscheidung ist, so wenig überraschend kommt sie. Denn der Supreme Court hat eine konservative Mehrheit von sechs zu drei – mit mehreren Richtern, die als erzkonservativ und sehr religiös gelten. Viele von ihnen legen die rund 230 Jahre alte Verfassung des Landes so aus, wie sie zum Zeitpunkt ihres Erlasses von ihren Verfassern gemeint war. Mit dieser Begründung ist nun auch das Recht auf Abtreibung gefallen, denn es steht so – kaum überraschend – nicht in der Verfassung. "Das Recht auf Abtreibung beruhte auf dem Grundsatz einer lebendigen Verfassung, die sich weiterentwickelt, um Freiheit und Gleichheit zu erweitern", schreibt die "Washington Post". Auf diesem Grundsatz beruhen auch zahlreiche andere Rechte, die heute als elementar gelten. Wenn man der Logik der aktuellen Entscheidung also folge, seien etliche Grundsatzentscheidungen falsch, schrieb die Zeitung.

Mehrere US-Bundesstaaten setzen sofort weitgehende Abtreibungsverbote in Kraft

Nach der umstrittenen Entscheidung haben mehrere US-Bundesstaaten sofort weitgehende Abtreibungsverbote in Kraft gesetzt. In Staaten wie Arkansas, Kentucky oder Louisiana sind Schwangerschaftsabbrüche nun nicht mehr erlaubt - auch nicht bei Vergewaltigungen oder Fällen von Inzest. Ausnahmen gibt es in der Regel nur für medizinische Notfälle. In mehreren weiteren Bundesstaaten treten Verbote in wenigen Wochen in Kraft. Andere dürften folgen. Eine Reihe liberaler Staaten kündigte dagegen an, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche weiter zu schützen. Prominente Republikaner wie Ex-US-Vizepräsident Mike Pence machen sich allerdings dafür stark, Abtreibungen im ganzen Land zu untersagen. In mehreren US-Städten kam es zu Protesten. In den USA gibt es kein landesweites Gesetz, das Abtreibungen erlaubt oder verbietet. Schwangerschaftsabbrüche waren bislang aber mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt - heute etwa bis zur 24. Woche. Dies hatten zwei Urteile des Obersten US-Gerichts sichergestellt, die nun gekippt wurden. Nun dürfen die Bundesstaaten über das Recht auf Abtreibung entscheiden. In rund der Hälfte der Staaten dürfte Abtreibung nun innerhalb weniger Monate stark eingeschränkt oder verboten werden.

Liberale Staaten bleiben bei bisherigen Regelungen

Die Gouverneure unter anderem aus Kalifornien, Oregon, Washington, Massachusetts, New Jersey und New York bekannten sich ausdrücklich zu ihrer liberalen Haltung bezüglich Abtreibungen. Frauen können nun theoretisch in diese Staaten reisen, um eine Abtreibung durchführen zu lassen. Allerdings können sich das viele schlicht nicht leisten. Befürchtet wird, dass in ihrer Not wieder vermehrt Frauen den gefährlichen Weg einschlagen, zu versuchen, selbst eine Abtreibung vorzunehmen. Angesichts der Entwicklung bieten mehrere große US-Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen an, im Fall eines Schwangerschaftsabbruches mögliche Reisekosten für einen Besuch in einem anderen Bundesstaat zu übernehmen. Eine Reihe von Konzernen wie etwa die Café-Kette Starbucks oder der Online-Handelsriese Amazon hatten solche Regelungen angesichts der drohenden Entscheidung des Supreme Courts bereits zuvor in Aussicht gestellt. Nach der Verkündung der Gerichtsentscheidung kündigten diverse weitere Firmen entsprechende Schritte an. Der Outdoor-Spezialist Patagonia sagte außerdem zu, mögliche Kautionskosten zu tragen für Mitarbeiter, die friedlich für "reproduktive Gerechtigkeit" demonstrierten und festgenommen würden.

Proteste in zahlreichen Städten

Bereits am Freitag hatten in mehreren Großstädten der USA Tausende Menschen spontan gegen das Urteil protestiert, darunter in der Hauptstadt Washington, in New York, Los Angeles, San Francisco, Chicago, Austin, Denver und Philadelphia. Am Wochenende folgten weitere Demonstrationen. Am Samstag etwa versammelten sich erneut mehrere Hundert Menschen vor dem Supreme Court, um gegen die Entscheidung des Gerichts zu protestieren. Eine Mehrheit der Amerikaner befürwortet Umfragen zufolge das Recht auf Abtreibung. Dass Frauen in Teilen des Landes nun die Hoheit über ihren eigenen Körper genommen wird und sie im schlimmsten Fall etwa gezwungen werden, das Kind eines Vergewaltigers auf die Welt zu bringen, entsetzt Abtreibungsbefürworter und Liberale. Abtreibungsgegner und Republikaner dagegen denken - gestärkt durch ihren politischen Sieg vor dem Supreme Court - bereits laut über weitere Beschränkungen nach, um etwa den Verkauf von Abtreibungspillen zu blockieren, Reisen in andere Staaten für Abtreibungen zu erschweren oder ein landesweites Abtreibungsverbot durchzusetzen.

Supreme Court stark nach rechts gerückt

Fachleuten zufolge ist der Supreme Court aktuell so sehr nach rechts gerückt wie selten zuvor. Ein ausgleichendes Zentrum fehlt. Maßgeblich dazu beigetragen hat Ex-Präsident Donald Trump, der in seiner Amtszeit gleich drei Richterposten besetzte. Dem Institut Gallup zufolge liegt die Unterstützung für das Gericht in der Bevölkerung auf dem niedrigsten Stand seit Beginn der Befragung Anfang der 1970er Jahre. Die Entscheidung gegen das Recht auf Abtreibung ist nur ein Beispiel dafür, wie die Richter in den USA die Uhren zurückdrehen – oder dies könnten. Gerade erst hat der Supreme Court das Recht auf das Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit deutlich ausgeweitet – und damit ein mehr als 100 Jahre altes Gesetz aus New York gekippt. Im Herbst befasst sich das Gericht mit der Frage, ob bestimmte Unternehmen aus religiösen Gründen ihre Dienste gleichgeschlechtlichen Paaren verwehren können. Auf der Agenda steht auch ein Fall, der sich mit der Frage beschäftigt, ob Hochschulen bei ihrem Auswahlprozess Minderheiten besonders berücksichtigen dürfen. Das Gericht in seiner aktuellen Zusammensetzung könnte bei diesen Fällen nun ganz anders entscheiden als bei sehr ähnlichen Fällen in der Vergangenheit. Es hätte diese Fälle auch nicht annehmen müssen.

Richterinnen und Richter des Supreme Court auf Lebenszeit ernannt

Die Richterinnen und Richter des Supreme Court werden auf Lebenszeit ernannt. Ein US-Präsident kann mit der Bestimmung der Kandidaten die Rechtsprechung und damit das gesellschaftliche Klima also weit über seine Amtszeit hinaus beeinflussen. Trump hatte diese Macht voll ausgenutzt – doch auch seine Partei setzt vielerorts auf ultrakonservative bis diskriminierende Politik. In zahlreichen Bundesstaaten etwa haben die Republikaner die Rechte der LGBTQI-Gemeinschaft eingeschränkt. Die englische Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans-Menschen, queere sowie intergeschlechtliche Menschen. Bei einem Parteitag der Republikaner in Texas fand sich jüngst in einem zur Abstimmung gestellten Resolutionsdokument folgendes: "Homosexualität ist eine abnormale Lebensweise." Und nicht zum ersten Mal steht im Parteiprogramm der Konservativen dort ein Satz, der anmutet wie aus den 1950er Jahren: "Wir fordern die Legislative des Bundesstaates auf, ein Gesetz zu verabschieden, das den Unterricht in Sexualerziehung, sexueller Gesundheit, sexueller Entscheidungsfreiheit oder sexueller Identität in jeder öffentlichen Schule in jeder beliebigen Klassenstufe verbietet."

US-Bürger können Gesellschaftspolitik nur durch Wahlen verändern

Auch Trump, der öffentlich mit dem Gedanken spielt, noch mal für das höchste Staatsamt zu kandidieren, schlägt ähnliche Töne an. Er droht Lehrern, die "sexuelle Propaganda" – was auch immer das genau sein soll – verbreiteten, mit Ermittlungen. In einer fairen Welt, so sagte er neulich bei einem Auftritt in Nashville, würden solche Lehrer aus dem Klassenzimmer entfernt. Das ist keine Fantasie. Im republikanisch regierten Florida gibt es seit Frühjahr ein Gesetz, das die Themen "sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität" vom Kindergarten bis zur dritten Klasse untersagt und für ältere Schüler einschränkt. Doch ist das Land wirklich so konservativ? An der Zusammensetzung des höchsten US-Gerichts können die Wählerinnen und Wähler im Moment wenig ändern. Sie können aber durchaus wählen, wer sie regiert – und damit welche Gesellschaftspolitik eingeschlagen wird. Die nächste große Chance haben sie bei den Kongresswahlen im Herbst. Umfragen zufolge sieht es für die Demokraten nicht gut aus – es wird erwartet, dass sie Sitze verlieren. Die Partei dürfte nun versuchen, die Wähler auch mit dem Thema Abtreibung zu mobilisieren – und mit der Angst vor einem Abgleiten der USA in düstere alte Zeiten.

Zahlreiche Stars kritisieren Urteil

Angeführt von einer entsetzten Megan Rapinoe haben sich amerikanische und auch internationale Sportlerinnen und Sportler zum Abtreibungsverbot durch den Supreme Court geäußert. "Ich wünschte, wir könnten heute über Fußball sprechen", sagte die 36 Jahre alte US-Fußballerin während einer Pressekonferenz der Nationalmannschaft. "Es ist schwer, in Worte zu fassen, wie traurig dieser Tag für mich und meine Mitspielerinnen ist", sagte sie mit immer wieder stockender Stimme und den Tränen nahe: "Die Grausamkeit ist der Punkt, denn das ist in keiner Weise pro Leben. Ich habe null Vertrauen, dass meine Rechte vor Gericht gewahrt werden." Auch Tennisspielerin Coco Gauff zeigte sich enttäuscht. "Es fühlt sich an, als würde sich Geschichte wiederholen", sagte die 18 Jahre alte French-Open-Finalistin vor dem Tennis-Highlight in Wimbledon. "Ich ermuntere Menschen weiter, ihre Stimme zu erheben und sich nicht entmutigt zu fühlen, weil wir definitiv einen Wandel erreichen können und hoffentlich wird das auch passieren." Der 22 Jahre ältere Superstar Serena Williams wollte sich vor Beginn des Rasen-Klassikers zu dem Thema hingegen nicht äußern. Basketball-Superstar LeBron James teilte bei Twitter einige Kommentare zu der Entscheidung und deren Auswirkungen auf schwarze Frauen. Der Profi von den Los Angeles Lakers kommentierte: "Es geht absolut um Macht und Kontrolle." "Ich bin absolut geschockt, dass wir an dieser Stelle stehen", schrieb Sängerin Taylor Swift bei Twitter. "Nach so vielen Jahrzehnten, in denen Menschen für das Recht von Frauen, über ihren Körper zu bestimmen, gekämpft haben, hat uns diese Entscheidung das wieder weggenommen." Hailey Bieber, Model und Ehefrau von Popstar Justin Bieber, kommentierte via Instagram: "Wow ... ich bin sprachlos. Was für ein furchtbarer Verlust und was für eine Enttäuschung. Das macht sehr, sehr viel Angst." Schauspielerin Viola Davis schrieb via Twitter, sie sei "am Boden zerstört". "Jetzt müssen wir mehr denn je unsere Stimme und unsere Macht benutzen." "Es ist wahrhaft unvorstellbar und entmutigend, versuchen zu müssen, meiner elfjährigen Tochter zu erklären, warum wir in einer Welt leben, in der Frauenrechte vor unseren Augen zerfallen", schrieb Sängerin Mariah Carey.

Redaktion beck-aktuell, Julia Naue, 27. Juni 2022 (dpa).