Regierung befürchtet "Dammbruch"
Denn es geht längst nicht nur darum, ob vier Menschen aus Syrien Zuflucht in Belgien erhalten. Aus Sicht der Regierung stehen die Grundlagen der Asylpolitik auf dem Spiel. Sie befürchtet einen Dammbruch. Denn die Familie aus Aleppo hat sich mit ihrer Reiseerlaubnis erstritten, wovon viele träumen dürften, die in Europa auf Asyl hoffen. Begründet hat dies der belgische Rat für Ausländerstreitsachen, ein Verwaltungsgericht, mit Art. 3 EMRK: "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden."
Asylstaatssekretär will Urteil nicht umsetzen
Asylstaatssekretär Francken weigert sich, das Urteil und spätere Gerichtsentscheide umzusetzen. "Das droht einen Andrang auf unsere Konsulate in Beirut und Ankara auszulösen", warnt er. Belgien drohten ein "gefährlicher Präzedenzfall" und der Verlust der "Kontrolle über seine Grenzen". Der Fall ist außergewöhnlich. Wenn die vier Syrer "als irreguläre Migranten" kämen, es bis nach Griechenland schafften und von dort weiter nach Westen – dann hätten sie beste Chancen, in der EU Schutz zu erhalten. Mehr als 2.700 Syrer haben 2015 in Belgien Zuflucht gefunden, damit hatten 97,64% aller Bewerber Erfolg.
"Balkanroute" ist dicht
Doch vielen Flüchtlingen ist dieser Weg mittlerweile versperrt, sie müssen damit rechnen, auf griechischen Inseln festzusitzen und vielleicht am Ende in die Türkei zurückgeschickt zu werden. Die Länder der "Balkanroute", über die 2015 so viele Menschen gekommen sind, haben ihre Grenzen längst geschlossen.
Familie will legal einreisen
Das Paar aus Aleppo mit seinen beiden fünf und acht Jahre alten Kindern will keine gefährliche Reise ins Ungewisse antreten und dafür die Dienste krimineller Schlepperbanden in Anspruch nehmen. Die Syrer wollen legal einreisen. Eine Unterkunft hätten sie auch, sagen sie. Eine Familie aus dem südbelgischen Namur würde sie aufnehmen.
Familie lebt in ständiger Lebensgefahr
Die Anwälte der Familie schreiben: "Sie wohnen in Aleppo im Haus eines Onkels, der aus Syrien geflüchtet ist. Ihre eigene Unterkunft ist durch die Bombardierungen völlig zerstört worden. Wegen des Krieges, der Aleppo verwüstet, gehen die Kinder nicht mehr zur Schule. Sie leben in ständiger Furcht zu sterben, durch eine Kugel (...) oder eine Rakete (...). Allein am Dienstag, dem 04.10.2016, sind 28 Raketen in der Nähe ihres Wohnsitzes abgefeuert worden."
Asylbehörden wollen Art. 3 EMRK nicht so weit auslegen
Die Asylbehörden antworten: "Artikel 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte kann nicht so interpretiert werden, dass er von den Unterzeichnerstaaten verlangen würde, auf ihrem Gebiet alle Personen aufzunehmen, die eine katastrophale Situation durchleben – andernfalls würde den entwickelten Ländern abverlangt, dass sie alle Bevölkerungen aufnehmen aus Entwicklungsländern, (der Staaten) im Krieg oder solchen, die von Naturkatastrophen heimgesucht wurden."
Gericht entscheidet zugunsten der syrischen Familie
Das Gericht entscheidet: Die Visa sind zu erteilen, binnen 48 Stunden. Das war am 20.10.2016. Ob die Syrer jemals belgischen Boden betreten, ist ungewiss. Staatssekretär Francken geht durch die Instanzen: "Der Kampf wird so lange dauern wie nötig".
Berufungsgericht verurteilt Staat zu Zwangsgeld
Ein Brüsseler Berufungsgericht bestätigt am 07.12.2016 die Entscheidung des Rates für Ausländerstreitsachen und verdonnert den Staat zur Zahlung eines Zwangsgeldes von 1.000 Euro pro Tag bis zur Ausstellung der Visa. Francken kündigt daraufhin die Nutzung aller Rechtswege an, um eine Zahlung zu vermeiden.
Nationalistenpartei N-VA springt Staatssekretär zur Seite
Der Rechtsstreit weitet sich derweil zur politischen Auseinandersetzung aus. Die flämische Nationalistenpartei N-VA springt ihrem Staatssekretär Francken mit einer Kampagne in sozialen Netzwerken zur Seite. "KEINE Zwangsgelder und KEINE weltfremden Richter. KEINE belgischen Papiere für jeden Asylsuchenden der Welt", heißt es in einem Facebook-Post der Partei, der bisher über 4.000 Mal geteilt wurde. Wenn Richter Politik machen wollten, sollten sie sich doch zur Wahl stellen, merkt Parteichef Bart De Wever an.
Premier Charles Michel fordert "Ruhe und kühlen Kopf"
Die grüne Partei hält dagegen mit "KEINE Desinformation und KEIN Druck auf Richter. KEINE Aushöhlung des Rechtsstaats." Der Chef der flämischen Christdemokraten fordert die Achtung der Urteile. "Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich einer Entscheidung der Justiz genauso beugen wie irgendein Bürger", fordert die sozialistische Abgeordnete Julie Fernandez-Fernandez Francken auf. Der liberale Premier Charles Michel ruft – ein wenig hilflos – "zu Ruhe und kühlem Kopf" auf. Die Regierung wolle ihre Migrationspolitik im Respekt für den Rechtsstaat verteidigen. Juristen sollen die Sache nun in Arbeitsgruppen prüfen.
Familie harrt in Aleppo aus
Die syrische Familie harrt in Aleppo aus, wo Regierungstruppen, Milizen und Rebellen kämpfen. "Diese letzten Wochen waren extrem bedrückend für sie", sagt ihr Anwalt Thomas Mitevoy der belgischen Nachrichtenagentur Belga. Die Zivilisten von Aleppo säßen zwischen den Kriegsparteien fest, berichten die Vereinten Nationen. Es komme offenbar zu Verstößen gegen das Völkerrecht.