"Ein Prozess gegen einen Politiker ist nicht gleich ein politischer Prozess"
© Charlotte Schmitt-Leonardy

Marine Le Pen darf nach ihrer Verurteilung nicht mehr für politische Ämter kandidieren. Nun planen SPD und Union ähnliche Folgen bei Verurteilungen wegen Volksverhetzung. Die deutsch-französische Strafrechtsprofessorin Charlotte Schmitt-Leonardy hält das für den falschen Weg.

beck-aktuell: Kürzlich wurde in Frankreich Marine Le Pen wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder verurteilt. Sie darf nun fünf Jahre lang nicht für ein öffentliches Amt kandidieren. Kritikerinnen und Kritker sagen, man habe sich damit einer politischen Gegnerin entledigt. Ist das etwas, das auch in Deutschland passieren könnte?

Schmitt-Leonardy: Das Urteil gegen Marine Le Pen ist aus deutscher Perspektive deshalb bemerkenswert, weil das erstinstanzliche Gericht auch den sofortigen Vollzug angeordnet hat. Das bedeutet, dass der Entzug des passiven Wahlrechts bereits jetzt gilt, obwohl das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Die sofortige Wirksamkeit der Maßnahme ergibt sich aus Artikel 471 alinéa 4 des Code de procédure pénale. Dieser erlaubt es Strafgerichten, vorläufige Maßnahmen zu erlassen, um eine aufschiebende Wirkung der Berufung auszuschließen. Und gegen diese Anordnung des Sofortvollzugs gibt es kein eigenes Rechtsmittel.

Das ist der politisch brisante Aspekt des Urteils und hier unterscheiden sich das deutsche und französische Rechtssystem fundamental. So etwas wie den Sofortvollzug im Strafrecht kennen wir in Deutschland nicht. Der Grundsatz aus § 449 StPO ist, dass Strafurteile nicht vollstreckbar sind, bevor sie rechtskräftig sind. Es ist sogar eine Straftat, freiheitseinschränkende Sanktionen gegen Unschuldige zu vollstrecken.

Zudem gibt es bei uns ein – der Überprüfung in einem gewissen Maße offenstehendes – pflichtgemäßes Ermessen des Gerichts. In Frankreich ist die Nebenfolge der Unwählbarkeit seit 2016 bei Veruntreuung öffentlicher Gelder verpflichtend mit auszusprechen. Das ist in Deutschland anders, und allein dieser Mechanismus zusammen mit dem Umstand, dass es den Sofortvollzug von Strafurteilen nicht gibt, schützt uns vor allzu hektischen Manövern vor einer Wahl. Der Gesetzgeber hat also – auch in Anbetracht des Schuldprinzips – besondere Vorkehrungen getroffen, damit nur eine differenzierte Argumentation zum Verlust des passiven Wahlrechts führt.

"Sanktionen an der Grenzlinie zur Meinungsfreiheit"

beck-aktuell: Nun planen Union und SPD, auch in Deutschland bei mehrfacher Verurteilung wegen Volksverhetzung das passive Wahlrecht zu entziehen. Wie schauen Sie auf den Vorschlag?

Schmitt-Leonardy: Ich schaue grundsätzlich kritisch auf die Tendenz, komplexe Probleme mit mehr oder schärferem Strafrecht zu lösen. So sehr ich das Anliegen der Resilienzstärkung unserer Demokratie teile, so stark bezweifle ich, dass wir mit einem – offenbar als quasi-automatisch konzipierten – Entzug des passiven Wahlrechts bei Mehrfachverurteilungen hier weiterkommen.

Die nach § 130 StGB strafbare Volksverhetzung ist ein Tatbestand mit vielen, teils kontrovers diskutierten Voraussetzungen. Bei der Anwendung stehen Gerichte vor großen Herausforderungen. An insofern immer schwer zu begründende Grenzlinien der Meinungsfreiheit eine Sanktion zu knüpfen, die aus der politischen Arena ausschließt, halte ich schon rein aus strategischen Gründen nicht für die beste Wahl.

Trotzdem gilt: Mit einer solchen Gesetzesänderung würde nicht "eine Opposition kriminalisiert" oder gar "mit Entzug des Wahlrechts letztlich ausgeschaltet", wie man dieser Tage lesen kann. Die Aberkennung des passiven Wahlrechts ist etwas, das es in § 45 StGB schon lange gibt, und man kann mit guten Gründen der Meinung sein, dass verurteilte Straftäter nicht in hohe politische Ämter gehören. Auch in anderen Berufen gibt es zuweilen das Erfordernis eines blütenreinen Führungszeugnisses – für Repräsentanten der Gesellschaft kann ebenfalls ein höheres Anforderungsprofil gelten. Es steht dem Gesetzgeber frei, insofern Neuregelungen zu treffen und sich im Parlament mit den Argumenten der Opposition auseinanderzusetzen – das ist ein ganz normaler demokratischer Vorgang.

"Das Opfer-Narrativ sollte uns nicht von der Rechtsanwendung abhalten"

beck-aktuell: Auch in Deutschland sollen Gerichte immer häufiger Entscheidungen treffen, die weitreichende politische Folgen haben. Sollten sie sich in Zurückhaltung üben, um das "Opfer-Narrativ" extremer Lager nicht noch weiter zu bedienen?

Schmitt-Leonardy: In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft sind alle Repräsentanten des Staates besonders aufgerufen, sich in Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Integrität zu üben, ja. Im Hinblick auf Entscheidungen, die potenziell politische Sprengkraft haben und für ein Märtyrernarrativ extremer Lager taugen, bin ich aber ambivalent: Einerseits gibt es die Tendenz der Gerichte, hier durch Zurückhaltung eine besondere Fairness zu demonstrieren. Das kann das demokratische System der Gewaltenteilung und das Vertrauen in den Rechtsstaat stärken. Schaut man aber zum Beispiel in die USA und erinnert sich an die Sonderermittlung von Robert Mueller, dann scheint diese Strategie der Fairness und Zurückhaltung nicht aufgegangen zu sein.

Extreme Lager machen gesellschaftliche Entrüstung zu ihrem politischen Kapital, das sollte Gerichte jedenfalls nie von der Anwendung des Rechts abhalten. Der Umstand, dass Urteile "im Namen des Volkes" gefällt werden, ist nicht damit zu verwechseln, dass sie unbedingt "nach dem Willen des Volkes" ergehen. Wir können uns – auch als Gesellschaft – nicht nur in den Dienst der Reaktion stellen. Ich finde, Klarheit und Rückgrat im Hinblick auf den Rechtsstaat zu beweisen, hat an sich auch einen demokratischen Wert.

Also ja, zuweilen haben rechtliche Entscheidungen eben politische Folgen. Daran ist im Grundsatz nichts falsch. Solange das Recht sorgfältig angewandt und eine gut begründete Entscheidung gefällt wird, die auf einem fairen Verfahren beruht, sind wir im grünen Bereich. Das gilt auch für Strafprozesse. Natürlich sollten wir uns – schon aus einem Grundverständnis von Rechtsstaat heraus – nie gänzlich immun fühlen gegen politische Tendenzen in der Rechtsprechung. Wir haben sogar bei europäischen Nachbarn erlebt, dass sich eine einst rechtsstaatliche Justiz drehen kann. Insofern ist es immer klug, Vorwürfe "politischer Prozesse" kritisch zu reflektieren. Aber unterm Strich muss eines klar sein: Nur, weil ein Prozess gegen einen Politiker geführt wird und mit einer Sanktion endet, haben wir noch keinen "politischen Prozess". Das ist schlichte Rechtsanwendung.

"Die Zivilgesellschaft muss einen Gang hochschalten"

beck-aktuell: Die Debatte um den Entzug des passiven Wahlrechts zeugt auch von dem Wunsch nach mehr Handhabe, wenn sich Politikerinnen und Politiker gegen unser demokratisches Wertesystem stellen – bis hin zu strafrechtlich relevantem Verhalten. Wenn nicht beim Strafrecht, wo könnte dieser Hebel ansetzen?

Schmitt-Leonardy: Bei uns selbst – und mit der Ausgangsprämisse, dass es keine "perfekte Formel" gibt, um mit denen umzugehen, die die Demokratie unterminieren und den Rechtsstaat gefährden. Es gibt ausreichend soziologische und demokratietheoretische Forschung, die nahelegt, dass eine Kriminalisierung oder komplette Ausgrenzung der extremen Parteien nicht funktioniert. Was aber vielversprechend ist: Das Zusammenstellen von Fakten und Argumenten – in aller Fairness und bei einem hohen Differenzierungsanspruch – sowie das darauf basierte Kommunizieren von klaren Schlussfolgerungen.

Im Grunde geht es also um Widerspruch auf allen Ebenen und bei jeder Gelegenheit: im Hörsaal, im Anwaltverein, in der Cafeteria des Gerichts, am Stammtisch oder an der Bushaltestelle. Ich glaube schon, dass allein durch einen intensiveren, klareren und mit Rückgrat geführten Diskurs in der Gesellschaft schon einiges zu drehen ist. Und: Wir werden aushalten müssen, dass sich der Pluralismus gerade dort bewähren muss, wo Unappetitliches und Unerhörtes staatlicherseits unzensiert bleibt. Wir sollten also nicht immer wieder auf die Karte "Strafrecht" setzen und uns dann das Gefühl geben, damit seien die Probleme angegangen. Ich finde eher, dass da die Zivilgesellschaft gefragt ist. Wir sind es, die einen Gang hochschalten müssen.

beck-aktuell: Vielen Dank für das Gespräch.

Redaktion beck-aktuell, Denise Dahmen, 9. April 2025.

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