Ein bürgerliches Gericht – 70 Jahre BGH
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© BGH/Joe Miletzki

Heute wird der Bundesgerichtshof (BGH) 70 Jahre alt. Als Leuchtturm, der für Orientierung in den Weiten des Zivil- und Strafrechts sorgt, ist er das für die Rechtspraxis wichtigste Gericht, auch wenn seine Urteile und Beschlüsse noch vor das wenige Kilometer entfernte BVerfG gebracht werden können – und die Richter im Schlossbezirk ihre Kollegen in der Herrenstraße auch schon manches Mal aufgehoben haben.

Die Geschichte

Seit dem 1.10.1950 hat der BGH in unzähligen Entscheidungen die Rechtseinheit gewahrt und das Recht fortgebildet. Der Start war indes unrühmlich. Das Gericht trug nicht gerade zu einem von der Nazi-Zeit unbelasteten Neuanfang bei. Ganz im Gegenteil: Bis in die 1960er Jahre hinein gab es Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus sowohl in der Richterschaft als auch in der straf- und zivilgerichtlichen Rechtsprechung. Der BGH ist daher in seinen ersten Jahren als „Traditionskompanie des Reichsgerichts“ bezeichnet worden. Spätestens seit den frühen 1970er Jahren wurde er zunehmend als eigenständige Institution wahrgenommen, auch weil er seine eigenen Rechtsprechungslinien entwickelte. Im Strafrecht wurde etwa der Grundsatz des fair trial betont und fortentwickelt. Im Zivilrecht rückte der BGH abweichend vom Reichsgericht den objektivierten statt den historischen Willen des Gesetzgebers in den Vordergrund. „Im Unterschied zum RG ist der BGH heute ein bürgerliches Gericht“, sagt die Präsidentin des BGH Bettina Limperg in einem ausführlichen Jubiläumsinterview mit der NJW. Allein das Erscheinungsbild der „Richterbänke“ im wörtlichen Sinne, aber auch der beteiligten Personen und das zivile Leben der allermeisten Kolleginnen und Kollegen erinnerten in nichts mehr an die elitäre Erscheinung des Reichsgerichts, so Limperg.

Die Rechtsprechung

In den 70 Jahren seines Bestehens hat das Karlsruher Gericht einen beeindruckenden Output hingelegt. Seine Leitentscheidungen füllen bald 224 Bände BGHZ und 64 Bände BGHSt. Unter den Judikaten finden sich zahlreiche „Klassiker“, die Generationen von Juristen in der Ausbildung und der Praxis beschäftigen.

Das Fachpublikum verfolgt die Rechtsprechung aufgrund ihrer Bedeutung mit großem Interesse. Ein bisschen geht es den Richterinnen und Richtern wie dem Bundestrainer: Egal wie sie entscheiden, draußen gibt es immer scharenweise Beobachter, die kritisch von der Seitenlinie kommentieren – und die dabei oftmals meinen, es besser zu wissen. Auch wenn man sich über manche Kritik in Karlsruhe verständlicherweise ärgert, schätzt man den fruchtbaren Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, an dem sich die Richterinnen und Richter mit eigenen Publikationen sowie auf zahlreichen Veranstaltungen selbst beteiligen.

Die Gegenwart

Heute beschäftigen den BGH viele Alltagsprobleme der Justiz, etwa die erhebliche Auslastung und die Herausforderungen der Digitalisierung. Für Letztere sieht man sich gut gerüstet. Die vom Gesetzgeber zugelassenen digitalen Kommunikationswege würden genutzt, EGVP und beA gehörten zum Arbeitsalltag, sagte Präsidentin Limperg der NJW. In der Verwaltung gebe es schon die vollständige elektronische Aktenführung, und im Bereich der Zivilsenate habe man in einem langjährigen Pilotverfahren zur Einführung der elektronischen Akte gute Erfahrungen gemacht.

Anders sieht es bei der Belastung aus. „Wir haben im Kerngeschäft anhaltend hohe Fallzahlen“, sagt die Präsidentin. Der Rückgang der Zivilverfahren bei den Instanzgerichten komme beim BGH nicht an. Stattdessen erreichten aktuell Massenverfahren wie die sogenannten Dieselklagen das Gericht. Dafür sei man nicht ausgestattet, es fehle an Geschäftsstellenpersonal, an Aktenräumen und Rechtspflegern. Im Strafrecht sei es ähnlich, demnächst werde das NSU-Verfahren dort anhängig, und auch die Cum/Ex-Verfahren liefen auf Karlsruhe zu.

Eine Erweiterung des Gerichts etwa durch neue Senate ist aus Sicht von Bettina Limperg keine Lösung. „Das Gericht ist an der Grenze der noch akzeptablen Größe eines Bundesgerichts angekommen“, sagte sie der NJW. Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung setze notwendig eine große Konzentration und eine überschaubare Gruppe beteiligter Senate voraus. Bereits heute kämpfe der BGH mit Binnendivergenzen, die für die Instanzgerichte und die Anwaltschaft zu Unzuträglichkeiten führten.

Die Zukunft

Gefragt nach ihren Geburtstagswünschen für den BGH nennt Bettina Limperg unter anderem den notwendigen Respekt und einen gewissen Vertrauensvorschuss von denjenigen, die dessen Arbeit institutionell prägen und begleiten. „Wir sind darauf angewiesen, dass wir als Dritte Gewalt in unseren Besonderheiten, aber auch in unserer Unabhängigkeit akzeptiert werden“, so Limperg. In Anbetracht aktueller Entwicklungen äußert sie außerdem den Wunsch, „dass die Themen des Rechtsstaats gerade in Zeiten der Krise von allen daran Beteiligten aufgenommen und als unverzichtbare Voraussetzungen jeder freiheitlichen Ordnung in den Vordergrund gestellt werden“. Zum Rechtsstaat moderner Prägung gebe es „schlechterdings keine Alternative“.

Jubiläumsfeier

Anlässlich des 70. Geburtstags findet am 8.10.2020 von 11 bis 12.30 Uhr eine Jubiläumsveranstaltung mit Podiumsdiskussion statt, die vom SWR live aus dem Gerichtsgebäude übertragen wird. Nach einleitenden Gesprächen mit Bettina Limperg und Generalbundesanwalt Peter Frank über die Arbeit ihrer Institutionen gibt es Grußbotschaften von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dem Präsidenten des BVerfG Stephan Harbarth. Anschließend folgt eine Podiumsdiskussion zum Thema „Bilder der Justiz – Ab-Bild der Gesellschaft?“, unter anderem mit dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg Winfried Kretschmann und Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. In die Diskussion einbezogen werden auch Karlsruhes Oberbürgermeister Frank Mentrup, die Präsidentin der Rechtsanwaltskammer beim BGH Brunhilde Ackermann sowie Schülerinnen und Schüler des Bismarck-Gymnasiums Karlsruhe.

 

Tobias Freudenberg, 1. Oktober 2020.