Stiftung aus dem 16. Jahrhundert im Licht der EMRK

Auch eine vor fast 500 Jahren gegründete türkische Stiftung muss sich an den Grundsätzen der Menschenrechtskonvention messen lassen. Eine Regel, wonach nur männliche Nachfahren des Gründers Ausschüttungen erhalten, verstößt nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen das Diskriminierungsverbot.

Gegründet in Diyarbakir anno 1536

Die Erben einer Türkin fordern ihr Recht ein, an den Ausschüttungen der Örfioglu-Stiftung beteiligt zu werden. Diese war in osmanischer Zeit 1536 in Diyarbakir im Südosten der heutigen Türkei gegründet worden. Die Einnahmen sollten gemeinnützigen Zwecken zugutekommen. Der Gründer dachte allerdings auch an seine Nachfahren: Überschüsse sollten Nachkommen in direkter Linie zufließen – soweit es sich um Männer handelte. Das Stiftungsvermögen wurde 2015 auf 207 Millionen Euro und die jährlichen Einnahmen auf 3,7 Millionen Euro geschätzt. Nach türkischem Recht war die Stiftung rechtlich anerkannt (vakif) und gehörte zur Gruppe der "mülhak" genannten Stiftungen. Dabei handelt es sich um Körperschaften, die von der Gründerfamilie geführt werden. Der Vater der Verstorbenen war bis 1982 selbst Verwalter gewesen, seine Tochter erhielt jedoch später keine Zahlungen. Das Gericht in Diyarbakir, ihm folgend der Kassationshof und schließlich das türkische Verfassungsgericht bestätigten, dass sie als Frau nicht zum Kreis der Berechtigten gehöre – so sei es in der Gründungsurkunde festgelegt worden. Der EGMR stellte auf die Beschwerde ihrer Erben hin eine Konventionsverletzung fest.

Frauenbild des 16. Jahrhunderts

Die Entscheidungen der türkischen Gerichte basierten nach Ansicht der Straßburger Richter allein auf der Feststellung, dass diese Regel vom Stifter nun einmal so gewollt gewesen sei. Dementsprechend sei die türkische Regierung ihnen mit dem Argument beigesprungen, dass die Privatautonomie und der Schutz des Eigentums keinen Eingriff in die inneren Abläufe der Körperschaft erlaubten. Der EGMR wies dies scharf zurück: Folge man dieser Logik, so wäre dies gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass Staaten keine Pflicht treffe, aktiv Diskriminierungen zu verhindern, zu beenden und zu bestrafen. Die Tatsache, dass die Gründungsurkunde den Rechts- und Moralvorstellungen sowie dem Frauenbild seiner Zeit entsprochen habe, liefere keine Rechtfertigung dafür, die Praxis beizubehalten – zumal schon fraglich sei, ob sie bei Einführung des türkischen Zivilgesetzbuchs 1926 noch der Rechtslage entsprochen habe. Die Wiedereröffnung des Verfahrens nach Art. 375 § 1 türkische ZPO sei die gerechte Wiedergutmachung für den Verstoß gegen Art. 14 EMRK in Verbindung mit  Art. 1 EMRK.

EGMR, Urteil vom 05.07.2022 - 70133/16

Michael Dollmann, Mitglied der NJW-Redaktion, 6. Juli 2022.