Kollektiv weggeschaut: Das Driftback-System vor dem EGMR
© AA | Turkish Coast Guard/Handout

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich gerade darauf geeinigt, Asylverfahren stärker an den Außengrenzen durchzuführen. Zwei aktuelle Fälle zeigen die menschenunwürdigen Praktiken an diesen Grenzen. Dr. Constantin Hruschka ordnet die Verfahren ein.

Der EGMR verhandelt am Dienstag erstmals zwei Fälle, in denen es um die systematischen Pushbacks von Griechenland in die Türkei geht. Genauer hat der EGMR in den beiden Verfahren (G.R.J. und A.E. – Nr. 15067/21 und 15783/21) über sogenannte Driftbacks zu entscheiden, die sich in den Jahren 2019 und 2020 von der Insel Samos aus und am Grenzfluss Evros zugetragen haben sollen. Bei solchen Driftbacks werden Personen auf Schlauchboote gezwungen, die keine Steuerungsmöglichkeit haben, und dann auf dem Wasser zurückgelassen – die Strömung treibt sie in die Türkei zurück. 

Die Fälle werfen ein Schlaglicht auf die Schwierigkeiten und die Rechtsverletzungen, mit denen Schutzsuchende an den europäischen Außengrenzen konfrontiert sind. Sie sind besonders relevant, weil sie eine Praxis beleuchten, die auch heute – fünf Jahre nach den nun zu verhandelnden Fällen – noch gängig ist und Medienberichten zufolge von den griechischen Behörden regelmäßig angewendet wird.

Erst am 14. Mai haben sich die EU-Staaten auf eine Reform der Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geeinigt, das verstärkt auf Verfahren an den Grenzen und Zusammenarbeit mit Drittstaaten setzt. Gleichzeitig betont die Reform die Bedeutung der strikten Einhaltung des Refoulement-Verbots und des Zugangs zum Asylverfahren.

Vor diesem Hintergrund kommt dem Verfahren vor dem EGMR besondere Bedeutung zu.  Es betrifft die Situation an der Außengrenze des Schengen-Raums, über die in den vergangenen Jahren die meisten schutzsuchenden Personen eingereist sind.

Die Verfahren: Zwei Geschichten, ein System

Die Verfahren drehen sich um einen damals 15-jährigen afghanischen Jungen (G.R.J., Az. 15067/21) und eine türkische Frau (A.E., Nr. 15783/21). Beide erzählen eine ähnliche Geschichte: Die griechischen Behörden hätten ihre Habseligkeiten konfisziert, ihre Asylgesuche überhört und sie gezwungen, auf ein Schlauchboot zu steigen, mit dem sie jeweils in die Türkei zurückgeschickt wurden. Dort seien sie inhaftiert worden.

Rechtlich geht es um die Frage, ob Griechenland Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) und Art. 13 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) der EMRK verletzt hat. Die türkische Asylsuchende macht ferner auch eine Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) geltend, bringt also vor, rechtswidrig inhaftiert worden zu sein.

Die griechischen Behörden bestreiten allerdings, dass die beiden sich zum streitgegenständlichen Zeitpunkt überhaupt auf griechischem Hoheitsgebiet befunden hätten. Die türkische Frau hatte später in Griechenland Strafanzeige erstattet, die jedoch mit der Begründung abgelehnt wurde, dass "die griechische Polizei keine Pushback-Praktiken anwendet". Im Verfahren dürften Fragen der Darlegungslast deshalb von zentraler Bedeutung sein. 

Darlegungslasterleichterung nur bei regelmäßigen Driftbacks

Es wird im heutigen Verfahren einerseits darauf ankommen, ob der Gerichtshof den Beschwerdeführenden glaubt, dass sich die Ereignisse so zugetragen haben, wie sie sie vorbringen. Stimmen ihre Geschichten, so liegen die geltend gemachten Verletzungen von Art. 2, Art. 3 und Art. 13 EMRK klar vor, da die Behörden durch das Aussetzen auf einem steuerungsunfähigen Boot das Leben der Beschwerdeführenden gefährdet hätten und nach der Rechtsprechung des EGMR das Überhören von Asylanträgen ebenso eine Verletzung von Art. 3 und Art. 13 EMRK ist wie eine Abschiebung ohne Prüfung des Schutzbedarfs.

Andererseits hängt – falls Zweifel verbleiben – die rechtliche Beurteilung entscheidend davon ab, wer die Darlegungslast für die behaupteten Rechtsverletzungen hat. Dabei ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich die beschwerdeführende Person verpflichtet, konkrete Hinweise auf eine Rechtsverletzung zu liefern, also das Überhören des Asylantrags glaubhaft zu machen. An dieser (zu) hohen Hürde sind in der Vergangenheit nicht wenige Beschwerden gegen Pushbacks beim EGMR gescheitert.

Eine Beweislasterleichterung greift allerdings, wenn das Überhören von Asylgesuchen oder Pushbacks systematisch und weit verbreitet ist, oder das Unterlassen eines individuellen Verfahrens und einer Einzelfallprüfung den Kern der Behauptungen des Antragsstellers darstellt. Liegen Erkenntnisse in dieser Richtung vor, und kann der Beschwerdeführer einen Anfangsverdacht begründen, muss der Staat, gegen den Beschwerde geführt wurde, darlegen, dass er keine Rechtsverletzung begangen hat. Da sowohl Beweise hinsichtlich des Überhörens als auch der Beweise des Nicht-Überhörens praktisch kaum zu erbringen sind, kann die Verteilung der Darlegungslast eine entscheidende Rolle spielen.

Daher kommt es entscheidend darauf an, ob der Gerichtshof überzeugt ist, dass Griechenland systematisch oder zumindest sehr regelmäßig das Zugangsrecht zum Asylverfahren verletzt. So hatte der EGMR etwa im Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland aus dem Jahr 2011 die Darlegungsanforderungen für den Beschwerdeführer herabgesetzt, da die griechischen Praktiken dem belgischen Staat nicht unbekannt sein konnten. In der Folge wurden sowohl Griechenland als auch Belgien unter anderem verurteilt, weil das griechische Asylverfahren nicht zugänglich war.

Zahlreiche Belege für regelmäßige Driftback-Praxis

Wenn also nach Auffassung des EGMR Driftbacks und das Überhören von Asylanträgen zum regelmäßigen Repertoire griechischer Migrationspolitik gehören, wäre eine Verurteilung Griechenlands wahrscheinlich. Die Beschwerdeführenden machen geltend, es gebe zahlreiche Belege für diese sogenannten Driftbacks, über die Medien und NGOs berichtet hätten und die von UN-Organisationen verurteilt worden seien. Forensic Architecture habe eine Online-Plattform eingerichtet, auf der über 2.000 verifizierte Vorfälle dokumentiert sind, darunter die Ausweisung des heutigen Beschwerdeführers G.R.J. Angesichts der hohen Anzahl der Drift- und Pushbacks, für die es nach den zahlreichen Medienberichten Belege gibt, wird der EGMR in der mündlichen Verhandlung dieser Frage besondere Aufmerksamkeit widmen.

Hinzu kommt schließlich, dass beide Beschwerdeführenden – neben ihrer grundsätzlichen Vulnerabilität als asylsuchende Personen - Personengruppen angehören, die nach der Rechtsprechung des EGMR besonderen Schutz genießen. Dieser besondere Schutz ergibt sich bei G.R.J. aus seiner damaligen Minderjährigkeit und bei A.E. durch ihre Stellung als potentiell gewaltbetroffene Frau. Auch dieser Aspekt könnte bei der Verteilung der Darlegungslast eine Rolle spielen.

Ferner könnte es in den beiden Verfahren auch entscheidend um die Einhaltung des Refoulement-Verbots gehen. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, schutzsuchende Personen zu registrieren und diese über ihre Situation und ihre rechtlichen Möglichkeiten zu informieren, ist das prozedurale Element zur Einhaltung des Refoulement-Verbots des Art. 3 EMRK (i.V.m Art. 13 EMRK) und könnte eine wichtige Rolle spielen.

Würde Griechenland trotz der vielen öffentlichen Belege für die Pushbacks nicht verurteilt, könnten die Mitgliedstaaten das Urteil aus Straßburg als Blaupause für eine zukünftige Grenzpolitik verwenden, die Pushbacks mit rechtlich bedenklichen Grenzverfahren kombiniert. Für den Zugang zum Schutz für Flüchtlinge steht nicht nur angesichts dieser aktuellen Entwicklungen viel auf dem Spiel.

Redaktion beck-aktuell, Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München., 4. Juni 2024.