Der Sitzungssaal des Berufungsgerichts im südfranzösischen Aix-en-Provence, in dem sich Jean-François Federici vor etwa sieben Jahren wegen eines Doppelmords verantworten musste, wirkt nicht unbedingt wie ein mittelalterliches Tribunal, in dem die Grundsätze des Rechtsstaats über Bord geworfen wurden. Mit seinen furnierten Wänden und Tischen in Kirschholzoptik und den schwarzen Kunstledersesseln könnte er genauso in Deutschland stehen. Auch das Corpus Delicti im untechnischen Sinn – der rund drei Meter hohe Glaskasten mit Sitzplatz und Mikrofon darin – fügt sich vergleichsweise dezent in den Raum ein.
Doch genau dieser ist es, der nun eine Entscheidung des EGMR hervorgebracht hat. Federici, der in dem Mordprozess zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war, zog nach Straßburg und rügte die Tatsache, dass er seinen Strafprozess hinter dicken gläsernen Wänden hatte verbringen müssen. Er sah darin eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren sowie der Unschuldsvermutung aus Art. 6 EMRK.
Der Gerichtshof lehnte dies jedoch ab: Er sei nicht berufen, im Allgemeinen darüber zu befinden, ob Glaskabinen etwas in Strafprozessen zu suchen hätten (Urteil vom 03.04.2025 - 52302/19). In diesem Fall sei keine Menschenrechtsverletzung feststellbar, da der Einsatz nicht unverhältnismäßig gewesen sei. Dabei berücksichtigte der EGMR unter anderem, dass Federici – zum Zeitpunkt der Verhandlung noch mutmaßlich – gewalttätig gewesen sei und sich jahrelang durch Flucht seinem Prozess entzogen habe. Die Kabine habe im Übrigen jederzeit eine ausreichende Bewegungsfreiheit und auch Kommunikation mit seiner Verteidigung zugelassen.
Klette beschwerte sich über Wachtmeister in Glaskabine
So weit, so wenig neu. Die Fälle, in denen Sicherungsvorrichtungen in der Vergangenheit durch den EGMR beanstandet wurden, waren krasse Ausnahmen und kamen aus Ländern wie Russland oder Georgien. Dabei ging es um regelrechte Käfige, die nicht nur als Verstoß gegen Verfahrensgrundsätze, sondern auch gegen das Folterverbot gewertet wurden, wie der Frankfurter Strafrechtsprofessor Matthias Jahn im beck-aktuell-Gespräch erklärt. "Dieser Fall ist von den Auswüchsen, welche die Russen mitunter praktiziert haben, sehr weit entfernt", so Jahn.
Und doch wirft er die Frage auf, wie weit eigentlich der Spielraum der Gerichte ist, wenn es um Sicherungsmaßnahmen im Gerichtssaal geht. In Deutschland spielte jüngst ein sehr ähnlicher Glaskasten eine Rolle im Strafprozess gegen die mutmaßliche frühere RAF-Terroristin Daniela Klette, der aus Sicherheitsgründen im Staatsschutzsaal des OLG Celle verhandelt wird, obwohl es in dem Verfahren "nur" um Raubüberfälle und nicht um Terrorismus geht. Klettes Verteidigungsteam rügte, dass stets zwei Justizbeamte mit ihnen hinter der Glasscheibe stünden. Diese könnten Gespräche zwischen ihnen und ihrer Mandantin mithören. Das Gericht gab der Verteidigung recht, die Justizbeamten mussten ihren Platz verlassen.
Solche Glaskabinen gibt es in vielen Gerichtssälen der Republik. Er selbst habe – seinerzeit noch als Strafverteidiger – seinen Mandanten vor dem KG in einer solchen sitzen sehen, erinnert sich Jahn. Freilich ist das nicht die einzige Maßnahme, die in einem Strafverfahren für Sicherheit und Ordnung sorgen soll. Noch bekannter – weil auch häufiger anzutreffen – ist die Vorführung des oder der Angeklagten im Saal in Hand- und Fußfesseln, meist begleitet von lautstarken Protesten der Verteidigung, diese mutmaßlich unnötige Schikane zu beenden.
"Es wird alles hingebogen"
Doch während die sonstige Staatsgewalt – namentlich vor allem die Polizei – für fast jeden Grundrechtseingriff eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage braucht, sind Sicherungsmaßnahmen gegen Angeklagte im Saal gesetzlich nur defizitär reguliert, erklärt Jahn. Das "Justizordnungsrecht" sei ein vorkonstitutioneller Bereich, erklärt der Strafrechtslehrer. Das GVG als Reichsjustizgesetz datiert in seiner ursprünglichen Fassung von 1877. § 176 GVG überträgt dem bzw. der Vorsitzenden "die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung", die Aufgabe der Sitzungspolizei. Das ist etwas, das man im engeren Polizeirecht als sehr weite Generalklausel verstehen würde. Im Grunde steht es damit im weitgehenden Ermessen des Gerichts, wie die Sitzung abläuft und wie sie geschützt wird.
Das ist unter dem Grundgesetz nicht unproblematisch, meint Jahn: "Der Grundsatz 'Mein Saal, meine Regeln' entspricht nicht dem heutigen Stand des Verfassungsrechts, wonach eine Aufgabe keine Befugnis verleiht." Man müsse dem Vorbehalt des Gesetzes "schon einige Gewalt antun", so Jahn, um aus § 176 GVG solche Befugnisse abzuleiten. Und dieser erfasst nur die Maßnahmen im Saal. "Außerhalb des Sitzungssaals gibt es nur ein ungeschriebenes Hausrecht der Gerichtspräsidenten kraft Natur der Sache", so Jahn. "Es wird alles etwas hingebogen, damit man das, was man seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts praktiziert hat, auch unter dem Grundgesetz tun kann – also seit mehr als einem Dreivierteljahrhundert."
In beiden Bereichen zögen demnach nur der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Fairnessgebot eine Grenze. Das heißt: "Wenn ein Saal über eine solche Glaskabine verfügt, darf man sie auch benutzen, wenn man begründen kann, dass das im Einzelfall zur Sicherheit beiträgt", erklärt Jahn. Frühere Gewalttätigkeiten oder auch eine hinreichend begründete Fluchtgefahr reichten den Gerichten in der Praxis.
Anwältin im Kurden-Prozess: "Sie machen sich doch lächerlich"
Was erst einmal nach einem eher akademischen Problem klingt, kann aber in der Praxis auch handfeste Bedeutung erlangen. Jahn erinnert dazu an den sogenannten "Kurden-Prozess" gegen PKK-Anhänger vor dem OLG Düsseldorf in den 1990er Jahren. Auch dort saßen die Angeklagten hinter Glas und konnten sich nur über Sprechstellen mit ihrem Verteidigerteam unterhalten. Diese waren so angebracht, dass ein Gespräch nur möglich war, wenn die Personen direkt vor und hinter der Scheibe standen. Die Anwältinnen und Anwälte stellten hiergegen zahlreiche Anträge, weil sie sich in ihrer Verteidigung und im unmittelbaren Kontakt zu ihren jeweiligen Mandantinnen und Mandanten erheblich behindert sahen. Eine Anwältin blieb irgendwann an der Trennscheibe stehen und kommentierte die Aufforderung des Vorsitzenden, sich wieder hinzusetzen, mit dem Satz: "Sie machen sich doch lächerlich", was ihr ein ehrengerichtliches Verfahren einbrachte. Später entschied dazu sogar das BVerfG, dass die Verteidigungsrechte durch die Glas-Trennung erheblich eingeschränkt gewesen seien.
Gleichzeitig kann es immer auch gute Gründe für Sicherungsmaßnahmen geben. Berichte von Angeklagten, die im Saal Zeuginnen und Zeugen oder auch Vorsitzende körperlich attackieren, zeugen davon. Der ehemalige Verteidiger Jahn hält daher auch Glaskabinen nicht per se für problematisch. Die Unschuldsvermutung sieht er – anders als der Beschwerdeführer vor dem EGMR – hierdurch nicht automatisch beeinträchtigt: "Etwas anderes wäre es, wenn die Angeklagten hinter Gitterstäben wie gefährliche Tiere präsentiert würden. Das ist hier aber nicht der Fall."
Augen auf, liebe Verteidiger!
Einen Haken hat die Sache aber doch: den Rechtsschutz. Denn sitzungspolizeiliche Maßnahmen sind grundsätzlich nicht anfechtbar. "Die Rechtsprechung behilft sich hier damit, sie in bestimmten Fällen als Maßnahme der Verhandlungsleitung umzuinterpretieren, um so eine Beschwerde zu ermöglichen", erklärt Jahn. Das eröffne bei tieferen Grundrechtseingriffen immerhin eine Rechtsschutzmöglichkeit vor dem Fachgericht. Verteidigerinnen und Verteidiger müssten dann allerdings auch darauf achten, die Maßnahme noch in der Sitzung zu beanstanden, da sie anderenfalls in der Revision nicht mehr als Verfahrensfehler gerügt werden könne.
Am Ende sieht Jahn das Ganze pragmatisch: "Man muss das funktional betrachten. Der EGMR hat in seiner Entscheidung an die rechtsstaatlichen Maßstäbe erinnert und einige äußere Pflöcke für die Unrechtsregime dieser Welt eingerammt. Am Ende können vermutlich alle ganz gut damit leben."