Si­che­rungs­maß­nah­men im Straf­pro­zess: Wer im Glas­kas­ten sitzt…
© dpa | Caroline Seidel / Eine Glasscheibe mit Sprechlöchern trennt im OLG Düsseldorf die Sitzreihe für die Angeklagten ab.

Ver­letzt es das Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren, wenn An­ge­klag­te vor Ge­richt in Glas­käs­ten sit­zen müs­sen? Ein in Frank­reich ver­ur­teil­ter Dop­pel­mör­der konn­te den EGMR davon nicht über­zeu­gen. Und auch in Deutsch­land füh­ren Vor­sit­zen­de als "Sit­zungs­po­li­zei" ein eher un­an­ge­foch­te­nes Re­gi­ment.

Der Sit­zungs­saal des Be­ru­fungs­ge­richts im süd­fran­zö­si­schen Aix-en-Pro­vence, in dem sich Jean-François Fe­de­rici vor etwa sie­ben Jah­ren wegen eines Dop­pel­mords ver­ant­wor­ten muss­te, wirkt nicht un­be­dingt wie ein mit­tel­al­ter­li­ches Tri­bu­nal, in dem die Grund­sät­ze des Rechts­staats über Bord ge­wor­fen wur­den. Mit sei­nen fur­nier­ten Wän­den und Ti­schen in Kirsch­holz­op­tik und den schwar­zen Kunst­le­der­ses­seln könn­te er ge­nau­so in Deutsch­land ste­hen. Auch das Cor­pus De­lic­ti im un­tech­ni­schen Sinn – der rund drei Meter hohe Glas­kas­ten mit Sitz­platz und Mi­kro­fon darin – fügt sich ver­gleichs­wei­se de­zent in den Raum ein.

Doch genau die­ser ist es, der nun eine Ent­schei­dung des EGMR her­vor­ge­bracht hat. Fe­de­rici, der in dem Mord­pro­zess zu 30 Jah­ren Haft ver­ur­teilt wor­den war, zog nach Straßburg und rügte die Tat­sa­che, dass er sei­nen Straf­pro­zess hin­ter di­cken glä­ser­nen Wän­den hatte ver­brin­gen müs­sen. Er sah darin eine Ver­let­zung sei­nes Rechts auf ein fai­res Ver­fah­ren sowie der Un­schulds­ver­mu­tung aus Art. 6 EMRK. 

Der Ge­richts­hof lehn­te dies je­doch ab: Er sei nicht be­ru­fen, im All­ge­mei­nen dar­über zu be­fin­den, ob Glas­ka­bi­nen etwas in Straf­pro­zes­sen zu su­chen hät­ten (Ur­teil vom 03.04.2025 - 52302/19). In die­sem Fall sei keine Men­schen­rechts­ver­let­zung fest­stell­bar, da der Ein­satz nicht un­ver­hält­nis­mä­ßig ge­we­sen sei. Dabei be­rück­sich­tig­te der EGMR unter an­de­rem, dass Fe­de­rici  – zum Zeit­punkt der Ver­hand­lung noch mut­ma­ß­lich – ge­walt­tä­tig ge­we­sen sei und sich jah­re­lang durch Flucht sei­nem Pro­zess ent­zo­gen habe. Die Ka­bi­ne habe im Üb­ri­gen je­der­zeit eine aus­rei­chen­de Be­we­gungs­frei­heit und auch Kom­mu­ni­ka­ti­on mit sei­ner Ver­tei­di­gung zu­ge­las­sen.

Klet­te be­schwer­te sich über Wacht­meis­ter in Glas­ka­bi­ne

So weit, so wenig neu. Die Fälle, in denen Si­che­rungs­vor­rich­tun­gen in der Ver­gan­gen­heit durch den EGMR be­an­stan­det wur­den, waren kras­se Aus­nah­men und kamen aus Län­dern wie Russ­land oder Ge­or­gi­en. Dabei ging es um re­gel­rech­te Kä­fi­ge, die nicht nur als Ver­stoß gegen Ver­fah­rens­grund­sät­ze, son­dern auch gegen das Fol­ter­ver­bot ge­wer­tet wur­den, wie der Frank­fur­ter Straf­rechts­pro­fes­sor Mat­thi­as Jahn im beck-ak­tu­ell-Ge­spräch er­klärt. "Die­ser Fall ist von den Aus­wüch­sen, wel­che die Rus­sen mit­un­ter prak­ti­ziert haben, sehr weit ent­fernt", so Jahn.

Und doch wirft er die Frage auf, wie weit ei­gent­lich der Spiel­raum der Ge­rich­te ist, wenn es um Si­che­rungs­maß­nah­men im Ge­richts­saal geht. In Deutsch­land spiel­te jüngst ein sehr ähn­li­cher Glas­kas­ten eine Rolle im Straf­pro­zess gegen die mut­ma­ß­li­che frü­he­re RAF-Ter­ro­ris­tin Da­nie­la Klet­te, der aus Si­cher­heits­grün­den im Staats­schutz­saal des OLG Celle ver­han­delt wird, ob­wohl es in dem Ver­fah­ren "nur" um Raub­über­fäl­le und nicht um Ter­ro­ris­mus geht. Klet­tes Ver­tei­di­gungs­team rügte, dass stets zwei Jus­tiz­be­am­te mit ihnen hin­ter der Glas­schei­be stün­den. Diese könn­ten Ge­sprä­che zwi­schen ihnen und ihrer Man­dan­tin mit­hö­ren. Das Ge­richt gab der Ver­tei­di­gung recht, die Jus­tiz­be­am­ten muss­ten ihren Platz ver­las­sen.

Sol­che Glas­ka­bi­nen gibt es in vie­len Ge­richts­sä­len der Re­pu­blik. Er selbst habe – sei­ner­zeit noch als Straf­ver­tei­di­ger – sei­nen Man­dan­ten vor dem KG in einer sol­chen sit­zen sehen, er­in­nert sich Jahn. Frei­lich ist das nicht die ein­zi­ge Maß­nah­me, die in einem Straf­ver­fah­ren für Si­cher­heit und Ord­nung sor­gen soll. Noch be­kann­ter – weil auch häu­fi­ger an­zu­tref­fen – ist die Vor­füh­rung des oder der An­ge­klag­ten im Saal in Hand- und Fuß­fes­seln, meist be­glei­tet von laut­star­ken Pro­tes­ten der Ver­tei­di­gung, diese mut­ma­ß­lich un­nö­ti­ge Schi­ka­ne zu be­en­den.

"Es wird alles hin­ge­bo­gen"

Doch wäh­rend die sons­ti­ge Staats­ge­walt – na­ment­lich vor allem die Po­li­zei – für fast jeden Grund­rechts­ein­griff eine hin­rei­chend be­stimm­te Er­mäch­ti­gungs­grund­la­ge braucht, sind Si­che­rungs­maß­nah­men gegen An­ge­klag­te im Saal ge­setz­lich nur de­fi­zi­tär re­gu­liert, er­klärt Jahn. Das "Jus­tiz­ord­nungs­recht" sei ein vor­kon­sti­tu­tio­nel­ler Be­reich, er­klärt der Straf­rechts­leh­rer. Das GVG als Reichs­jus­tiz­ge­setz da­tiert in sei­ner ur­sprüng­li­chen Fas­sung von 1877. § 176 GVG über­trägt dem bzw. der Vor­sit­zen­den "die Auf­recht­erhal­tung der Ord­nung in der Sit­zung", die Auf­ga­be der Sit­zungs­po­li­zei. Das ist etwas, das man im en­ge­ren Po­li­zei­recht als sehr weite Ge­ne­ral­klau­sel ver­ste­hen würde. Im Grun­de steht es damit im weit­ge­hen­den Er­mes­sen des Ge­richts, wie die Sit­zung ab­läuft und wie sie ge­schützt wird.

Das ist unter dem Grund­ge­setz nicht un­pro­ble­ma­tisch, meint Jahn: "Der Grund­satz 'Mein Saal, meine Re­geln' ent­spricht nicht dem heu­ti­gen Stand des Ver­fas­sungs­rechts, wo­nach eine Auf­ga­be keine Be­fug­nis ver­leiht." Man müsse dem Vor­be­halt des Ge­set­zes "schon ei­ni­ge Ge­walt antun", so Jahn, um aus § 176 GVG sol­che Be­fug­nis­se ab­zu­lei­ten. Und die­ser er­fasst nur die Maß­nah­men im Saal. "Au­ßer­halb des Sit­zungs­saals gibt es nur ein un­ge­schrie­be­nes Haus­recht der Ge­richts­prä­si­den­ten kraft Natur der Sache", so Jahn. "Es wird alles etwas hin­ge­bo­gen, damit man das, was man seit der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts prak­ti­ziert hat, auch unter dem Grund­ge­setz tun kann – also seit mehr als einem Drei­vier­tel­jahr­hun­dert."

In bei­den Be­rei­chen zögen dem­nach nur der Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­grund­satz und das Fair­ness­ge­bot eine Gren­ze. Das heißt: "Wenn ein Saal über eine sol­che Glas­ka­bi­ne ver­fügt, darf man sie auch be­nut­zen, wenn man be­grün­den kann, dass das im Ein­zel­fall zur Si­cher­heit bei­trägt", er­klärt Jahn. Frü­he­re Ge­walt­tä­tig­kei­ten oder auch eine hin­rei­chend be­grün­de­te Flucht­ge­fahr reich­ten den Ge­rich­ten in der Pra­xis.

An­wäl­tin im Kur­den-Pro­zess: "Sie ma­chen sich doch lä­cher­lich"

Was erst ein­mal nach einem eher aka­de­mi­schen Pro­blem klingt, kann aber in der Pra­xis auch hand­fes­te Be­deu­tung er­lan­gen. Jahn er­in­nert dazu an den so­ge­nann­ten "Kur­den-Pro­zess" gegen PKK-An­hän­ger vor dem OLG Düs­sel­dorf in den 1990er Jah­ren. Auch dort saßen die An­ge­klag­ten hin­ter Glas und konn­ten sich nur über Sprech­stel­len mit ihrem Ver­tei­di­ger­team un­ter­hal­ten. Diese waren so an­ge­bracht, dass ein Ge­spräch nur mög­lich war, wenn die Per­so­nen di­rekt vor und hin­ter der Schei­be stan­den. Die An­wäl­tin­nen und An­wäl­te stell­ten hier­ge­gen zahl­rei­che An­trä­ge, weil sie sich in ihrer Ver­tei­di­gung und im un­mit­tel­ba­ren Kon­takt zu ihren je­wei­li­gen Man­dan­tin­nen und Man­dan­ten er­heb­lich be­hin­dert sahen. Eine An­wäl­tin blieb ir­gend­wann an der Trenn­schei­be ste­hen und kom­men­tier­te die Auf­for­de­rung des Vor­sit­zen­den, sich wie­der hin­zu­set­zen, mit dem Satz: "Sie ma­chen sich doch lä­cher­lich", was ihr ein eh­ren­ge­richt­li­ches Ver­fah­ren ein­brach­te. Spä­ter ent­schied dazu sogar das BVerfG, dass die Ver­tei­di­gungs­rech­te durch die Glas-Tren­nung er­heb­lich ein­ge­schränkt ge­we­sen seien.

Gleich­zei­tig kann es immer auch gute Grün­de für Si­che­rungs­maß­nah­men geben. Be­rich­te von An­ge­klag­ten, die im Saal Zeu­gin­nen und Zeu­gen oder auch Vor­sit­zen­de kör­per­lich at­ta­ckie­ren, zeu­gen davon. Der ehe­ma­li­ge Ver­tei­di­ger Jahn hält daher auch Glas­ka­bi­nen nicht per se für pro­ble­ma­tisch. Die Un­schulds­ver­mu­tung sieht er – an­ders als der Be­schwer­de­füh­rer vor dem EGMR – hier­durch nicht au­to­ma­tisch be­ein­träch­tigt: "Etwas an­de­res wäre es, wenn die An­ge­klag­ten hin­ter Git­ter­stä­ben wie ge­fähr­li­che Tiere prä­sen­tiert wür­den. Das ist hier aber nicht der Fall."

Augen auf, liebe Ver­tei­di­ger!

Einen Haken hat die Sache aber doch: den Rechts­schutz. Denn sit­zungs­po­li­zei­li­che Maß­nah­men sind grund­sätz­lich nicht an­fecht­bar. "Die Recht­spre­chung be­hilft sich hier damit, sie in be­stimm­ten Fäl­len als Maß­nah­me der Ver­hand­lungs­lei­tung um­zu­in­ter­pre­tie­ren, um so eine Be­schwer­de zu er­mög­li­chen", er­klärt Jahn. Das er­öff­ne bei tie­fe­ren Grund­rechts­ein­grif­fen im­mer­hin eine Rechts­schutz­mög­lich­keit vor dem Fach­ge­richt. Ver­tei­di­ge­rin­nen und Ver­tei­di­ger müss­ten dann al­ler­dings auch dar­auf ach­ten, die Maß­nah­me noch in der Sit­zung zu be­an­stan­den, da sie an­de­ren­falls in der Re­vi­si­on nicht mehr als Ver­fah­rens­feh­ler ge­rügt wer­den könne.

Am Ende sieht Jahn das Ganze prag­ma­tisch: "Man muss das funk­tio­nal be­trach­ten. Der EGMR hat in sei­ner Ent­schei­dung an die rechts­staat­li­chen Maß­stä­be er­in­nert und ei­ni­ge äu­ße­re Pflö­cke für die Un­rechts­re­gime die­ser Welt ein­ge­rammt. Am Ende kön­nen ver­mut­lich alle ganz gut damit leben."

EGMR, Urteil vom 03.04.2025 - 52302/19

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 4. April 2025.

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