Russland hat nach einem Urteil des EGMR mit seinem "Agentengesetz" gegen die Menschenrechte verstoßen. Die Vorschriften seien stigmatisierend und nicht vereinbar mit der Meinungsfreiheit, entschieden die Richter in Straßburg (Urteil vom 22.10.2024 - 39446/16 u. a.). Mit dem Gesetz wird demnach nicht, wie von Moskau behauptet, die nationale Sicherheit geschützt. Stattdessen diene es der Einschüchterung und Bestrafung. Geklagt hatten über 100 Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Medienorganisationen und Einzelpersonen, darunter die in Russland verbotene Organisation Memorial.
2012 war in Russland ein Gesetz in Kraft getreten, das etwa NGOs zwang, sich wegen ihrer vermeintlich politischen Arbeit und ausländischer Finanzierung als "ausländische Agenten" zu registrieren. Auf der Grundlage des zuletzt 2022 verschärften Gesetzes werden NGOs seit Jahren mit schweren Sanktionen und hohen Strafen belegt oder ganz aufgelöst.
Der Gerichtshof erkannte zuerst einen Eingriff in die Rechte der Kläger auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit aus Art. 10 und 11 EMRK . Die Einstufung einer Organisation oder einer Einzelperson als "ausländischer Agent" habe ihre Aktivitäten erheblich behindert, zusätzliche Buchführungs-, Prüfungs-, Berichts- und Kennzeichnungspflichten ausgelöst und ihre Teilnahme am Wahlprozess und die Organisation öffentlicher Veranstaltungen eingeschränkt. Zudem seien häufig Sanktionen verhängt worden, die von Geldstrafen bis zur Auflösung der Organisation reichten.
"Ausländischer Agent" wegen nicht einmal drei Euro
Insbesondere sei die Bezeichnung als "ausländischer Agent" stigmatisierend wie auch irreführend. Dazu verwies der EGMR auf Meinungsumfragen, aus denen hervorging, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Begriff "ausländischer Agent" mit "Verrätern", "Spionen" oder "Volksfeinden" verband. Neue Beschränkungen, die "ausländische Agenten" von der Übernahme öffentlicher Ämter, der Teilnahme an Wahlausschüssen, der Unterstützung politischer Kampagnen, der Ausbildung von Minderjährigen und der Produktion von Inhalten für Kinder ausschließen, verstärkten dieses Stigma. Die Bezeichnung sei auch insofern irreführend, als die Gesetzgebung davon ausgehe, dass Unterstützung in jeder Form - Finanzierung, Beratung oder Anleitung - einer ausländischen Kontrolle gleichkam. Dieser unbegrenzte Ermessensspielraum bei der Anwendung der Bezeichnung habe zu Dutzenden von Fällen missbräuchlicher Anwendung durch die Behörden geführt. Die Stiftung Ligue des Voters, eine unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation, sei wegen einer Spende von weniger als drei Euro von einem angeblich ausländischen Staatsangehörigen mit einer Geldstrafe belegt und liquidiert worden, während ein anderer Antragsteller wegen der Einlösung seiner Bonusmeilen bei einer Fluggesellschaft bei einem nicht-russischen Staatsangehörigen als Agent identifiziert worden sei.
Schließlich stellte der Gerichtshof im Hinblick auf die beschwerdeführenden Einzelpersonen auch einen Verstoß gegen das Recht auf Privatleben aus Art. 8 EMRK fest. Die Einstufung als "ausländischer Agent" nach dem Gesetz habe schwerwiegende Auswirkungen auf das soziale und berufliche Leben und den Ruf der Betroffenen und stelle einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens dar. Die Einstufung sei gar nicht daran geknüpft, dass die Kläger im Interesse einer ausländischen Organisation gehandelt hätten, und erfordere auch keine individuelle Beurteilung des Verhaltens. Es sei nicht erkennbar, so der Gerichtshof, inwiefern die Veröffentlichung der persönlichen Daten der Beschwerdeführer und die Verpflichtung, häufig und detailliert über ihre Einkünfte und Ausgaben zu berichten, einem anderen Zweck gedient hätten, als sie zu überlasten und einzuschüchtern. Der Ausschluss der Betroffenen von der Ausübung ganzer Berufe oder der Entzug von Werbeeinnahmen dienten nicht dem erklärten Ziel der Wahrung der nationalen Sicherheit oder der Transparenz und könnten daher nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden.
Der EGMR hatte bereits vor zwei Jahren ähnlich entschieden. Die Auswirkungen des aktuellen Urteils dürften allerdings begrenzt sein: Russland erkennt die Entscheidungen des Gerichtshofs nicht an. Das Land wurde wegen seines seit Februar 2022 andauernden Angriffskrieges gegen die Ukraine aus dem Europarat ausgeschlossen. Damit ist es auch kein Mitglied der EMRK mehr, für deren Einhaltung der Gerichtshof sorgt. Dieser kann aber weiterhin über Vorfälle entscheiden, die bis zu sechs Monate nach dem Ausschluss geschehen sind.