Während die polnischen Parteien nach der Wahl weiter darum ringen, eine neue Regierung zu bilden, beschäftigen die Umbauarbeiten der alten Regierung einmal mehr die europäischen Gerichte. In einer am Dienstag getroffenen Entscheidung hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Herabsetzung des Rentenalters für Richterinnen und Richter beschäftigt - und Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt (Urteil vom 24.10.2023 – 25226/18, Pajak und andere gegen Polen).
Die Herabsetzung des Rentenalters in den Jahren 2017 und 2018 war vielfach als Versuch der herrschenden PiS-Regierung (Regierungspartei "Prawo i Sprawiedliwosc" – Recht und Gerechtigkeit) interpretiert worden, politisch unbequeme Juristinnen und Juristen früher in den Ruhestand zu verabschieden. Die Amtszeit für die polnische Richterschaft wurde damals auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer abgesenkt; zuvor hatte sie einheitlich für beide Geschlechter bei 67 Jahren gelegen. Gleichzeitig bekamen der Justizminister und der Richterrat die Befugnis, das Ausscheiden aus dem Dienst auf Antrag aufzuschieben.
EGMR: Kein Rechtsschutz im Inland, kein faires Verfahren
Vier polnische Richterinnen wollten so nicht aus dem Justizdienst ausscheiden. Drei von ihnen wandten sich an den Minister, die vierte stellte ihren Antrag beim Richterrat. Alle Anträge wurden abgelehnt. Die Beschwerde einer Richterin gegen die Entscheidung des Justizministers lehnte das Oberste Gericht als unzulässig ab. Der Richterrat bezeichnete seine Entscheidung als endgültig, auf die Nachfrage bezüglich möglicher Rechtsbehelfe schwieg er. Daraufhin wandten sich die Juristinnen an den EGMR.
Mit Erfolg: In einer Mehrheitsentscheidung von fünf gegen die beiden Stimmen der Richter aus Polen und Ungarn hat das Gericht festgestellt, dass die Richterinnen faktisch keine Möglichkeit gehabt hätten, die Entscheidungen der Exekutive im Inland von einem unabhängigen Gericht überprüfen zu lassen. Richter und Richterinnen müssten aber vor Eingriffen der Exekutive und Legislative in ihre Amtsführung geschützt werden. Das könne nur durch eine richterliche Kontrolle gewährleistet werden. Da diese fehlte, so die Kammer, sei Art. 6 EMRK, das Recht auf ein faires Verfahren, verletzt.
Den Beteuerungen der polnischen Regierung, die Entscheidungen hätten vor den Verwaltungsgerichten oder dem Obersten Gericht angefochten werden können, schenkten die Straßburger Richterinnen und Richter also keinen Glauben. Der EGMR verwies dabei auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 05.11.2019 – C-192/18), der Polen 2019 aus genau diesem Grund wegen einer Vertragsverletzung verurteilt hatte: Dass es faktisch keinen Rechtsschutz gegen Entscheidungen gegen ihre Entsorgung in den Ruhestand gab, hatte auch der EuGH schon damals für unionsrechtswidrig erklärt (Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV).
Zudem Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts
EGMR und EuGH sind sich auch in einem weiteren Punkt einig: Die unterschiedlichen Altersgrenzen für Männer und Frauen stellten eine unzulässige Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Daher entschied sich die Mehrheit dafür, dass hier auch Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK verletzt worden war.
Die Entscheidung des EGMR erging zwar gegen die Stimmen der Richter aus Polen und Ungarn. Diese erklärten in ihrem abweichenden Votum aber ausdrücklich, die Bedenken der Mehrheit hinsichtlich der Notwendigkeit des Schutzes der Richterschaft vor Einflussnahme durch die Exekutive zu teilen. Für eine mögliche neue Regierungskoalition unter Führung des proeuropäischen Donald Tusk könnte das Rückenwind geben, um die Umbaumaßnahmen der polnischen Justizreform so schnell wie möglich rückgängig zu machen.