Abkommen mit Drittstaaten sind sowohl für die EU als auch für die Bundesrepublik ein Schlüsselinstrument, um die viel zitierte irreguläre Migration zurückzudrängen und die europäischen Grenzen gegen Fluchtbewegungen zu sichern. Vorbild dafür ist eine Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei, die seit 2016 Milliarden dafür erhält, geflüchtete Menschen zurückzunehmen, die ihren Weg nach Europa suchen. Inzwischen gibt es auch Vereinbarungen mit Tunesien, Ägypten oder Libyen.
Die Vereinbarungen sehen in der Regel vor, dass die jeweiligen Drittstaaten der EU dabei helfen, Fluchtmigration zu begrenzen, indem sie die Geflüchteten entweder gar nicht erst gen Europa reisen lassen oder diese auf dem Weg wieder abfangen und zurückbringen. Im Gegenzug erhalten sie finanzielle Hilfen, ebenso wie organisatorische Unterstützung bei der Grenzkontrolle. Für die EU ist das ein praktischer Weg, denn schaffen es die Menschen gar nicht erst auf europäisches Hoheitsgebiet, muss auch kein Asylantrag geprüft werden.
Geflüchtete beklagen Tod und Misshandlung durch libysche Küstenwache
Dass die Zusammenarbeit mit diesen Ländern problematisch sein kann, zeigt die jahrelange Kritik von Politikerinnen und Politikern, Medien und Menschenrechtsorganisationen. Die Organisation Pro Asyl etwa kritisierte den Deal mit Tunesien als "Pakt gegen Schutzsuchende" und auch die Zusammenarbeit mit Libyen steht in der Kritik. Eine Vertreterin von Ärzte ohne Grenzen etwa sprach schon 2022 von "Internierungslagern", "Ausbeutung" und "Gewalt" in Libyen, wohin auf offener See "gerettete" Menschen von der dortigen Küstenwache zurückgebracht werden. So erging es auch 17 Menschen aus Nigeria und Ghana, die nun vor dem EGMR Menschenrechtsverletzungen geltend machten. Der EGMR wies ihre Beschwerden am Donnerstag jedoch ab (Entscheidung vom 12.06.2025 - 21660/18).
Die Beschwerdeführenden waren unter den rund 150 Menschen, die am Morgen des 6. November 2017 auf einem Flüchtlingsboot im Mittelmeer in Seenot geraten waren. Die Besatzung setzte ein Notsignal an die italienische Küstenwache ab, die daraufhin einen Rettungseinsatz startete, zu dem auch ein Schiff der libyschen Küstenwache gerufen wurde. Das libysche Schiff traf als erstes ein.
Die Überlebenden, die schließlich vor den EGMR zogen, hielten die Kooperation Italiens mit der libyschen Küstenwache für rechtswidrig. Der Sachverhalt falle in die Zuständigkeit Italiens, das mit Zustimmung der EU eine Praxis des "Refoulement by Proxy" eingeführt habe. Hintergrund ist, dass europäische Staaten Migrantinnen und Migranten, die in ihrem Hoheitsgebiet ankommen, nicht einfach ohne rechtsstaatliches Verfahren zurückschicken dürfen. Wegen eines Verstoßes gegen dieses sogenannte Refoulement-Verbot war Italien in einem früheren Verfahren vor dem EGMR bereits verurteilt worden. Nun, so die Argumentation der Beschwerdeführenden, bediene man sich der libyschen Küstenwache – gewissermaßen als Proxy –, um in der Sache dasselbe Unrecht zu begehen, sich jedoch nicht die eigenen Hände schmutzig zu machen.
EGMR: libysche Küstenwache nicht von Italien gesteuert
Tausende von Geflüchteten würden durch diese Praxis der Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt, heißt es in der Beschwerde. Die 17 Personen beriefen sich vor dem EGMR im Wesentlichen auf Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) und Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung), in Verbindung mit Art. 1 (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte). Sechs von ihnen erklärten, von der libyschen Küstenwache misshandelt worden zu sein, zwei beklagten gar den Tod ihrer Kinder durch Ertrinken, für den diese verantwortlich sei.
Da Libyen kein Vertragsstaat der EMRK ist, ging es in diesem Verfahren vor allem darum, ob Italien das Handeln der libyschen Küstenwache zugerechnet werden kann. Die Voraussetzungen hierfür sahen die Richterinnen und Richter jedoch nicht als erfüllt an. Der Schlüsselbegriff hierfür ist in der Rechtsprechung des EGMR die extraterritoriale Zuständigkeit. Diese kann entweder an die Örtlichkeit oder an Personen anknüpfen. In örtlicher Hinsicht habe sich das Schiff in internationalen Gewässern befunden, die nicht von Italien faktisch kontrolliert würden, stellte der Gerichtshof klar. Und auch die handelnden Personen auf dem libyschen Schiff seien nicht unter italienischer Kontrolle gewesen. Zwar leiste Italien finanzielle Unterstützung an die libysche Regierung und assistiere bei der Seenotrettung, doch das begründe noch keine effektive Kontrolle. Die finanzielle und technische Unterstützung, die Italien dem libyschen Staat im Rahmen bilateraler Abkommen leiste, sei nicht geeignet, die Annahme zu begründen, dass Italien de facto Libyens hoheitliche Befugnisse in Einwanderungsangelegenheiten übernommen habe.
Gütesiegel für Drittstaatenabkommen?
Nora Markard, die an der Universität Münster den Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz innehat, nennt den Spruch des EGMR eine "Externalisierungsentscheidung". "Wenn man es schafft, dass man keinen direkten Kontakt zu den Behörden des Drittstaats hat, ist man menschenrechtlich aus der Sache raus", bringt sie den Inhalt auf den Punkt. Es sei "schade, dass sich die Richterinnen und Richter nicht auf die sehr konkrete Argumentation der Beschwerdeführenden eingelassen haben", so Markard. Die libysche Seenotrettung habe de facto nach Art eines „Marionettenregimes“ agiert. "Italien kauft die Schiffe, liefert die Daten, bildet die Leute aus, gibt ihnen Geld und koordiniert die Einsätze", erklärt Markard. "Im Grunde benutzt man Libyen nur."
Der EGMR habe die Betroffenen auf das Seerecht verwiesen und sich gleichwohl in seiner Entscheidung fast für seine enge Auslegung entschuldigt. Zudem habe er große Sorge über die Externalisierung der Migrationskontrolle bekundet. Doch das helfe den Betroffenen nicht viel, wie Markard klarstellt. Für die politisch gewollte Ausweitung der Kooperation mit den nordafrikanischen Durchreisestaaten sei die Entscheidung nun ein "Rubber Stamp", sagt sie, eine Art Gütesiegel.
Ein kleiner Lichtblick für Geflüchtete findet sich im Entscheidungstext an anderer Stelle (Rn. 111): Der Gerichtshof betont dort, dass ungeachtet des Rechts der Staaten, ihre Einwanderungspolitik souverän festzulegen, Schwierigkeiten bei der Steuerung der Migrationsströme keine illegalen Praktiken rechtfertigen könnten. Auch auf dem Meer dürfe es keinen rechtsfreien Raum geben. Markard sieht darin ein mögliches Zeichen der Kammer, dass der EGMR nicht alles mitmachen werde, "nur weil die Staaten sich überfordert fühlen".