Bluttransfusion an Zeugin Jehovas verletzte Selbstbestimmungsrecht

Einer Zeugin Jehovas wurde bei einer Notoperation in Spanien eine Bluttransfusion verabreicht. Zuvor hatte sie schriftlich niedergeschrieben, jede Art der Transfusion abzulehnen. Die Dokumente wurden nicht genügend berücksichtigt, so der EGMR.

Die Frau aus Ecuador lebt in Spanien und ist Mitglied der religiösen Gemeinschaft der Zeugen Jehovas. Kernbestandteil ihres Glaubens ist die kategorische Ablehnung jeglicher Bluttransfusionen. Diese Haltung schrieb sie, nachdem ihr im Sommer 2017 nach einigen Tests eine Operation empfohlen wurde, in einer letztwilligen Verfügung gegen eine Lebensverlängerung sowie in einer Vorsorgevollmacht nieder. Die letztwillige Verfügung trug sie bei sich, während die Vorsorgevollmacht in einer zentralen Behörde eingelagert und für das sie behandelnde Krankenhaus elektronisch einsehbar war.

Die Frau wurde im darauffolgenden Sommer 2018 mit starken inneren Blutungen ins Krankenhaus eingeliefert, lehnte an diesem Tag weiterhin eine Bluttransfusion ab und unterschrieb gemeinsam mit dem behandelnden Arzt eine schriftliche Bestätigung, dass sie keine Transfusion wünsche. Das Dokument wurde Teil ihrer Patientinnenakte. Am nächsten Tag musste die Patientin wegen einer Verschlechterung ihres Zustandes nach Madrid in ein auf Bluttransfusionen spezialisiertes Krankenhaus verlegt werden. Die Frau akzeptierte den Transport nach Annahme des EGMR unter der Maßgabe, auch dort ohne eine Transfusion behandelt zu werden.

Angesichts ihrer kritischen Lage wurde die Frau in Madrid in einer Notoperation ohne Rücksicht auf das übliche Protokoll über die Zustimmung zu Behandlungsmethoden behandelt. Zuvor genehmigte ein Bereitschaftsrichter, dass die Frau mit Bluttransfusionen behandelt werden dürfe. Der Richter war allerdings zuvor nicht über den vollständigen Willen der Patientin informiert. Weder die Frau noch ihre Familie wurden über die richterliche Anordnung in Kenntnis gesetzt. Bei der Verlegung nach Madrid und auf dem Weg in das Krankenhaus war die Frau laut eines Protokolls noch "bei vollem Bewusstsein", wurde jedoch dennoch nicht über die Anordnung aufgeklärt und ging davon aus, ohne Bluttransfusionen operiert zu werden. Nachdem sie am Folgetag von den Details der Operation erfuhr, klagte sie erfolglos vor dem spanischen Verfassungsgericht. 

Keine ausreichende Würdigung der Entscheidungsfreiheit

Der EGMR sprach der Frau in seinem Urteil Schadensersatz zu (Urteil vom 17.09.2024 – 15541/20). Die Zeugin Jehovas sei in ihren Rechten aus Art. 8 und Art. 9 EMRK verletzt worden. In der Urteilsbegründung macht das Gericht deutlich, nicht die Entscheidungen des medizinischen Fachpersonals neu bewertet zu haben, sondern anhand des Entscheidungsprozesses zu dem Entschluss gekommen zu sein, dass die Autonomie der Patientin nicht genügend respektiert wurde. Es sei zu berücksichtigten, dass der Bereitschaftsrichter die Entscheidung traf, um das Leben der Frau zu retten. Dennoch sei die Autonomie von Patientinnen und Patienten darüber, wie sie behandelt werden möchten, ein fundamentales Prinzip des Gesundheitssystems und durch die EMRK geschützt. In Grenzsituationen müsse die Entscheidung, eine lebensrettende Behandlung abzulehnen, klar, konkret und eindeutig durch die Patientin geäußert werden. Sei dies nicht der Fall, müsse das Personal alle möglichen Aufklärmaßnahmen treffen, so das Gericht.

Dies sei vorliegend nicht gelungen: das Krankenhaus in Madrid habe dem Richter nur die Information übemittelt, die Frau lehne "jegliche Behandlung" ab und habe dies mündlich dargelegt. Durch die fehlenden Hintergrundinformationen habe der Richter auf einer falschen Informationsbasis entschieden, so der EGMR. Man habe vor der Operation nicht ausreichend festgestellt, ob die Frau noch selbst entscheiden konnte und ihre Autonomie so fälschlicherweise in die Hände der behandelnden Ärztinnen und Ärzte gelegt.

Auch rügte das Gericht, dass weder die Frau noch ihre Familie vor der Operation über den Beschluss informiert wurden. Der Wille der Patientin sei mehrfach schriftlich dokumentiert gewesen. Bei besserer Kommunikation mit der Frau oder ihrem Umfeld hätte dieser Umstand auffallen und dem Richter mitgeteilt werden können, so das Gericht. Es sei möglich gewesen, den tatsächlichen Willen der Patientin einzuholen und zu respektieren. Durch diese Fehler im Entscheidungsprozess sei die Frau in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK sowie ihrer Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK verletzt worden.

Der EGMR verurteilte Spanien zu einer Zahlung von 12.000 Euro wegen immaterieller Schäden sowie zu einer Zahlung von 14.000 wegen der entstandenen Kosten gegenüber der Frau.

EGMR, Entscheidung vom 17.09.2024 - 15541/20

Redaktion beck-aktuell, js, 17. September 2024.