Sebastian klappt den Laptop auf, Marke Lenovo, 16 Zoll. Daran angeschlossen ist das Tastaturmodell „Cherry KC 1000“, zur Verfügung gestellt vom Landesjustizprüfungsamt NRW. Sebastian ist Jurastudent im 9. Semester an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Heute schreibt er seine erste elektronische Examensklausur, kurz: E-Examen.
Seit dem 1. Januar 2024 haben Studierende und Referendare in NRW die Wahl: Examen mit dem Laptop oder mit der Hand schreiben. Wie viele seiner rund 150 Mitprüflinge hat sich Sebastian für das E-Examen entschieden. „Mit dem Laptop ist man effektiver und schneller“, begründet er seine Entscheidung. „Die fünfstündigen Klausuren beanspruchen einen körperlich deutlich weniger und der Laptop sorgt für ein strukturiertes Schriftbild.“
Angst vor technischem Versagen hat er nicht. „Ich habe mir vorher das Belehrungsschreiben des LJPA genau durchgelesen“, sagt Sebastian. „Alle fünf Sekunden wird der Bearbeitungsstand zwischengespeichert. Es sind Supportmitarbeiter vor Ort, die bei technischen Problemen innerhalb einer Minute den Laptop austauschen.“ Im Prüfungssaal wird es still, nur Papier raschelt. Der Sachverhalt wird ausgeteilt, in Papierform. Neben Laptop und Tastatur reihen sich Habersack, Sartorius und Rehborn, als gedruckte Werke. Ein Sinnbild für die Digitalisierung in der juristischen Ausbildung?
Vorreiter ist Sachsen-Anhalt
„Es kann auch bestimmen, dass in den staatlichen Prüfungen schriftliche Leistungen elektronisch erbracht werden dürfen“, heißt es in der Neufassung des § 5d Abs. 6 S. 2 DRiG. Mit „es“ ist das Landesrecht gemeint. Seit der Gesetzesänderung im August 2021 haben die Länder die Möglichkeit, die Aufsichtsarbeiten elektronisch durchzuführen. Von dieser Regelung können sie Gebrauch machen, müssen es aber nicht.
Den Anfang machte Sachsen-Anhalt schon vor dieser Gesetzesänderung: Seit April 2019 können sich Referendarinnen und Referendare für die Prüfung am Laptop entscheiden. Sachsen und Rheinland-Pfalz führten das „E“ in der Zweiten Staatsprüfung im Jahr 2021 ein, Thüringen zog im Dezember 2022 nach. 2023 folgten Berlin, Brandenburg und das Saarland. Seit dem 1. Januar 2024 haben auch die Referendarinnen und Referendare in Nordrhein-Westfalen die Wahl.
Weitere Bundesländer stehen in den Startlöchern: Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein, Bayern und Baden-Württemberg wollen noch in diesem Jahr die E-Klausur im Zweiten Examen anbieten. Digitalschlusslicht sind Hessen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, die noch keinen konkreten Termin zur Einführung des E-Examens für das Referendarexamen haben.
Tastatur statt Füller sehr beliebt
Die Digitalisierung des Ersten Examens kommt dagegen langsamer voran. Begründet wird das mit der großen Zahl der Prüflinge. E-Klausuren in der Ersten Juristischen Staatsprüfung sind bislang nur in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Thüringen und ab August 2024 auch in Sachsen-Anhalt möglich. Sobald es ausreichende Erfahrungen damit gibt, wollen aber immer mehr Bundesländer das Erste Staatsexamen in digitaler Form anbieten.
Bis zur flächendeckenden Einführung wird es noch dauern, aber die Zahlen sprechen schon jetzt für sich: Knapp 97 % der Referendarinnen und Referendare in NRW haben sich im Januar 2024 für das E-Examen entschieden, in Berlin waren es sogar 99 %. Überraschend sind die Zahlen nicht.
Langsam, aber sicher findet ein Generationenwechsel statt. Auch wenn ein Jurastudium in jedem Alter möglich ist, gehören die meisten Absolventinnen und Absolventen heute der Generation Z an, auch Digital Natives genannt. Sie tippen in Vorlesungen, lernen mit digitalen Karteikarten, bedienen Computer intuitiv. Klausuren schreiben sie am Laptop schneller als mit der Hand.
Auch aus Sicht der Korrektorinnen und Korrektoren hat das E-Examen Vorteile: Keine durchgestrichenen Passagen mehr, keine schwer nachvollziehbaren Einschübe oder unleserliches Gekrakel. Die digitale Klausur glänzt durch ein sauberes Schriftbild. Bonus: Selbst wenn sie ausgedruckt auf dem Postweg verloren ginge, könnte sie schlicht noch einmal an die Prüferinnen und Prüfer übersandt werden.
„Neue Möglichkeiten, die das Papier nicht bietet“
Kritiker werfen dem E-Examen Chancenungleichheit vor: Es sei ungerecht, wenn einige Prüflinge schneller tippen können als andere. Und wie kann sichergestellt werden, dass handschriftliche und elektronische Klausuren gleich bewertet werden?
Laut Sarah Rachut, Geschäftsführerin des TUM Center for Digital Public Services in München, führt die E-Prüfung mit Wahlrecht hingegen sogar zu mehr Chancengleichheit. Mit Professor Dirk Heckmann hat sie bereits im Jahr 2017 im Auftrag des Bayerischen Justizministeriums eine Machbarkeitsstudie zur Umstellung auf die E-Klausur veröffentlicht. Ganz entscheidend sei die transparente Kommunikation der Prüfungsbedingungen. „Indem die Prüfungsämter vorab bekanntgeben, welche Hard- und Software im Prüfungssaal genutzt werden darf, kann sich jeder und jede für die individuell beste Lösung entscheiden“, so Rachut. Sie lobt die digitale Prüfung auch als inklusiver. In der analogen Prüfungssituation wird Prüflingen vorwiegend eine Schreibzeitverlängerung als Nachteilsausgleich gewährt. „Die Technik eröffnet neue Möglichkeiten, die das Papier nicht bietet“, betont Rachut. „Eine Bildschirmlupe, eine Brailletastatur oder erhöhte Kontrasteinstellungen des Bildschirms können die Prüfung z.B. für Personen mit Sehbeeinträchtigungen chancengerechter gestalten.“
Die Kehrseite der Digitalisierung: der Einsatz von USB-Sticks, Ghostwritern und die nachträgliche Manipulation von Textdateien eröffnen den Prüflingen neue Täuschungsmöglichkeiten. Am Ende erfolgt die Abgabe per Mausklick, eine graphologische Untersuchung des Schriftbilds ist nicht möglich. Stattdessen soll die IT-Infrastruktur die Prüfung missbrauchssicher machen. Doch die Erfahrungswerte sind gering, der logistische Aufwand und die Kosten für die Prüfungsämter hoch.
Nicht mehr als eine elektronische Schreibmaschine?
Mit dem E-Examen hält die Digitalisierung Einzug in den Prüfungssaal. Auf den ersten Blick scheint es eine Zeitenwende, auf den zweiten Blick sieht man auf den Tischen noch sehr viel Papier – so die Beobachtung von Daniella Domokos. „Das Einzige, was geschafft wurde, ist, dass wir bis 2023 die mechanische Schreibmaschine überspringen und nun eine elektronische Schreibmaschine verwenden dürfen“, kommentierte die Legal Engineer die Einführung des E-Examens in NRW im Business-Netzwerk LinkedIn.
Der Laptop, der den Prüflingen vom LJPA zur Verfügung gestellt wird, hat keinen Internetzugang, nur eine vorinstallierte Prüfungssoftware. Diese ähnelt den gängigen Textverarbeitungsprogrammen, allerdings ohne Rechtschreibprüfung. Auch einen digitalen Zugriff auf Gesetzessammlungen und Kommentarinhalte gibt es nicht, Blättern statt Scrollen lautet die Devise.
Auch nach der Abgabe der Arbeiten geht es in vielen Bundesländern noch nicht ohne Papier: Zunächst wird die Textdatei vom LJPA gesichert. „Die Prüfungsarbeiten werden anschließend ausgedruckt und sodann wie die handschriftlichen Arbeiten an die Prüferinnen und Prüfer zur Korrektur versandt“, informiert zum Beispiel das Sächsische Justizministerium auf seiner Website.
Erst der Anfang? Aber wovon?
13 von 16 Bundesländern haben die Weichen für die digitale Prüfung gestellt. Doch so, wie es derzeit ausgestaltet ist, beschränkt sich der digitale Durchbruch auf eine Klausurlösung, die getippt statt mit der Hand geschrieben wird. Wie sieht es mit einem digitalen Sachverhalt aus? Brauchen die Prüflinge nicht einen zweiten Bildschirm? Und was spricht dagegen, so zu prüfen, wie später gearbeitet wird? Warum keinen digitalen Zugriff auf Kommentarinhalte gewähren?
Die Gesetzesbegründung zu § 5d Abs. 6 S. 2 DRiG-E spricht von einem „notwendigen ersten Schritt der perspektivisch anzustrebenden vollständig elektronischen Prüfung“. Heißt übersetzt: Das E-Examen in seiner jetzigen Form soll nur der Anfang sein. Wie lange es aber dauern wird bis zu einer vollständig digitalen Prüfung und ob auch der Rest der juristischen Ausbildung digitaler werden wird, das ist noch völlig offen. „Derzeit ist nicht geplant, die Rahmenbedingungen der Anfertigung der Aufsichtsarbeiten (...) zu verändern“, teilt das Justizministeriums NRW auf Anfrage mit. „Ab April 2024 wird in Nordrhein-Westfalen allerdings damit begonnen, die Aufsichtsarbeiten digital zu korrigieren.“
Für Sarah Rachut darf die Digitalisierung nicht beim E-Examen aufhören. „In Zeiten von generativer KI müssen Juristinnen und Juristen mit immer komplexeren Sachverhalten umgehen, mehr Informationen verarbeiten und mit juristischen Datenbanken arbeiten können. Neue Rechtsgebiete kommen hinzu, der Pflichtstoff wird umfangreicher“, so Rachut. „Jetzt gilt es, Studium und Ausbildung digital auszugestalten und den Paradigmenwechsel voranzutreiben.“