Beim Deutschen Juristentag (djt) kommen sie alle zusammen. Juristinnen und Juristen aus allen Teilen der Bundesrepublik, aus allen Berufsgruppen, aus allen Generationen, so schreibt der djt selbst auf seiner Homepage. Es geht nicht um Interessenvertretung, sondern darum, Recht mitzugestalten, das hat die gleichnamige Organisation sich seit ihrer Gründung im Jahr 1860 auf die Fahnen geschrieben.
Alle zwei Jahre veranstaltet der gemeinnützige Verein einen Kongress, bei dem sich mehrere tausende juristische Teilnehmende treffen und auf Grundlage rechtswissenschaftlicher Gutachten untersuchen, ob es Änderungen oder Ergänzungen im Recht braucht.
Der 74. djt im Stuttgarter Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle wird ab Mittwoch in sechs Fachabteilungen die Diskussion eröffnen. Das Spektrum der rechtpolitischen Themen ist breit, die Thesen sind teils kontrovers: So fragt die Abteilung Wirtschaftsrecht etwa, wie Unternehmen mithilfe des Gesellschaftsrechts zu Klimaschützern gemacht werden können. Die Referentinnen und Referenten der Abteilung Arbeits- und Sozialrecht postulieren einen neuen Arbeitnehmerbegriff und auch alte Forderungen aus dem Berufsrecht – etwa das Ende des Fremdbesitzverbots – stehen wieder zur Debatte.
Die gemeinsam erarbeiteten Beschlüsse werden an den Gesetzgeber herangetragen, der Verein betont, dass seine Vorschläge dort besonderes Gewicht hätten, weil er übergreifend auftritt, also nicht die Interessen bestimmter beruflicher oder gesellschaftlicher Gruppen vertritt. Die Themen des Kongresses werden in aller Regel fast zwei Jahre zuvor festgelegt. Die am Mittwoch beginnende Veranstaltung zeigt, dass das ihrer Aktualität keinen Abbruch tut.
Massenverfahren mit mehr Regulierung begegnen?
Es ist gewiss kein ganz neues Thema, das in der Abteilung Zivilrecht des djt diskutiert werden wird. Doch die Fragen nach dem Zugang zur Justiz, zur Prozessfinanzierung und der Rolle von Legal Tech erhitzen auch nach Jahren die Gemüter und scheiden die Geister. Bei der effektiven Zivilrechtsdurchsetzung treffen die Interessen der Justiz, der Anwaltschaft, von Legal-Tech-Anbietern und Rechtssuchenden aufeinander. Legal-Tech-Anbieter machen als Inkasso-Dienstleister mithilfe von Standardisierung massenhaft kleine Forderungen gerichtlich geltend und greifen dabei zunehmend auf Prozessfinanzierer zurück.
Ein erfolgreiches Geschäftsmodell, das den Zugang zum Recht stärkt – so weit ist man sich noch einig. Doch die aus dem Legal-Tech-Inkasso resultierenden Massenverfahren stellen die Justiz, als ungerecht empfundene Wettbewerbsbedingungen, die die Anwältinnen und Anwälte stärker regulieren als Legal-Tech-Anbieter den Rechtsmarkt vor Herausforderungen.
Beim djt sollen Ideen her, wie die Justiz das Trauma der Dieselklagen überwinden und sich für kommende Massenverfahren stärken kann. Es wird streitbare Thesen geben, etwa, dass das Fremdbesitzverbot für Kanzleien fallen muss oder das Provisionsverbot gestrichen werden sollte. Oder braucht es gar eine ganz neue Struktur für den Zivilprozess der Zukunft?
Autonom, mobil, digital – braucht der Arbeitnehmer 2.0 ein neues Arbeitsrecht?
Arbeitsrechtliche Gesetze sind Kinder ihrer Zeit. Diese Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Arbeitsbedingungen. Mit dieser – sicher nicht allzu gewagten – These stellt die Abteilung Arbeitsrecht und Sozialrecht das in Deutschland herrschende Modell einer Dreiteilung der Erwerbstätigkeit – Arbeitnehmer, arbeitnehmerähnliche Personen und Selbständige – in Frage. Die Arbeitswelt habe sich gewandelt. Arbeit finde heute freier, digitaler, ortsunabhängiger statt, was zwangläufig die Frage aufwerfe: Was unterscheidet den Arbeitnehmer noch von der Selbstständigen?
Beim djt soll der Fokus deshalb auf einem zeitgemäßen Arbeitnehmerbegriff liegen. Die Diskussion ist eröffnet: Was würde ein neuer Arbeitnehmerbegriff konsequenterweise für Regelungen zum Kündigungsschutz, zur Arbeitszeit und für sozialversicherungsrechtliche Fragen bedeuten? Bedarf der Anwendungsbereich des Arbeitsrechts gar einer vollständigen Überarbeitung?
Smartphone beschlagnahmt: Das ganze Leben in staatlicher Hand
Handys, Laptops und Co. bergen wahre Datenschätze – das gilt heute mehr denn je. Kommunikationsdaten, Wegaufzeichnungen, Fotos, Soziale Medien, Notizen, Kalender – kaum eine Information über ihre Besitzer, die sich heutzutage nicht aus den smarten Geräten ableiten ließe. Dementsprechend hoch ist das Eingriffsgewicht, wenn Smartphones im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beschlagnahmt werden, mehr noch: Es nimmt ständig zu.
Die Abteilung Strafrecht wird die Debatte beim djt deshalb mit einer klaren These eröffnen: Die Vorschriften zur Beschlagnahme und Durchsicht in der StPO sind veraltet und erfassen nicht die enorme Datenmenge und -qualität, die IT-Geräte heute speichern. Sie schützen die Grundrechte der Beschuldigten nicht ausreichend. Es wird gefordert, die Anforderungen für den Zugriff auf digitale Geräte zu verschärfen.
Beim djt soll sich die Möglichkeit bieten, gemeinsam neue Konzepte zu entwickeln, die die Persönlichkeitsrechte Beschuldigter angemessen schützen und dabei gleichzeitig die notwendigen Befugnisse für eine effektive Strafverfolgung sicherstellen.
Mit Zwang oder mit Privatautonomie: Unternehmen als Klimaschützer?
Klimaschutz geht alle an – doch völkerrechtliche Klimaschutzabkommen verpflichten bisher nur die ratifizierenden Staaten. Dabei darf der Einfluss – positiv wie negativ – von Unternehmen auf die Bekämpfung des Klimawandels nicht unterschätzt werden. Unternehmen emittieren den Großteil der klimaschädlichen Treibhausgase, bündeln aber zugleich wichtige Ressourcen und Know-how, um die Dekarbonisierung voranzutreiben.
Die EU hat zudem längst begonnen, Unternehmen im Kampf gegen den Klimawandel in die Pflicht zu nehmen. Der Gesetzgeber steht vor der Aufgabe, diese Vorgaben – etwa aus der CSRD oder der Lieferketten-Richtlinie – in deutsches Recht einzuhegen. Kommen die Klimapflichten für Unternehmen also sowieso?
Die Abteilung Wirtschaftsrecht will beim djt einige Ideen vorstellen, wie Unternehmen mithilfe des Gesellschaftsrechts zu Klimaschützern werden können. Dabei sind nicht nur freiwillige Maßnahmen geplant. Zum Teil gehen Vorschläge sogar über die konkreten Vorgaben aus Brüssel hinaus: eine verbindliche Klimaquote, ein neuer Rechtsformzusatz „klimaneutral“ und mehr Klima-Governance im Unternehmen. Beim DJT wird es vieles zu besprechen geben.
Deutschland im Krisenmodus: Was muss der Staat leisten?
In einer Zeit multipler Krisen kann die Abteilung Öffentliches Recht beim djt sich nicht mit kleinen Themen zufriedengeben – und tut dies auch nicht. Vielmehr hat sie sich vorgenommen, einen Bogen zu spannen vom Staatsorganisationsrecht über das Haushaltsrecht, den Katastrophenschutz und das Steuerrecht bis hin zum Sozialrecht. Alles, um die Frage zu klären: Welche gesetzlichen Rahmenbedingungen werden benötigt, damit der Staat effizient und effektiv auf Krisen reagieren kann?
Dabei gehen die Referentinnen und Referenten mit der These an den Start, dass das Grundgesetz auch in tiefen Krisensituationen einen Geltungsanspruch hat. Die Konsequenz sei eine Verpflichtung des Staates, Krisenvorsorge zu betreiben und eine Resilienz von Recht, Staat und Gesellschaft herzustellen. Die Abteilung will über einzelne Rechtsgebiete hinweg Organisationsstrukturen ermitteln, die es braucht, um in Krisenzeiten gerüstet zu sein. Denn eines ist sicher: Auch wenn die Krise die vielzitierte „Stunde der Exekutive“ ist, entbindet das den demokratisch legitimierten parlamentarischen Gesetzgeber nicht von seiner Verantwortung.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk zwischen Fakten, Fake News und (Staats-)Fernegebot
Kaum weniger staatstragend dürfte es in der Abteilung Medienrecht zugehen: Wie können Staat, öffentlich-rechtlicher Rundfunk und die Wissenschaft ihrer Informationsverantwortung in einer zunehmend digitalisierten und vielfältigen Kommunikationslandschaft gerecht werden? Mit dieser Frage ist die Abteilung beim diesjährigen djt aktueller denn je: Desinformationen sind besonders auf Social-Media-Plattformen auf dem Vormarsch – private Plattformbetreiber aber kaum gewillt, sie aus dem Verkehr zu ziehen. Die rechtlichen Möglichkeiten sind begrenzt.
Dabei ist Social Media heute die erste Informationsquelle, besonders für junge Menschen. Eine Herausforderung für den Staat, der die Aufgabe hat, neutrale und verlässliche Informationen bereitzustellen, die für die demokratische Entscheidungsfindung unverzichtbar sind. Gleichzeitig darf er die Kommunikationsfreiheit nicht einengen und muss den Anforderungen an die Staatsferne der Medien gerecht werden. Und auch die Union hält sich nicht raus: Mit dem Digital Services Act und dem European Media Freedom Act liefert die EU zwei Instrumente, die es nun richtig einzusetzen gilt. Wo im Gesetz nachgeschärft werden muss, um der Rolle des Staates in der heutigen Medienlandschaft Rechnung zu tragen, wird Thema beim djt sein.
In welch schwierigem Klima der 74. Deutsche Juristentag stattfindet, zeigen auch andere Programmpunkte. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, wird die Veranstaltung mit einem Festvortrag zum Thema „75 Jahre Grundgesetz – In guter Verfassung?“ einläuten. In der Schlussveranstaltung geht es um die rechtlichen Rahmenbedingungen einer militärischen Unterstützung der Ukraine.