Divergenzvorlage zu Thüringer Coronaverordnung vom Herbst 2020 unzulässig
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Das Bundesverfassungsgericht hat eine Divergenzvorlage des Thüringer Verfassungsgerichtshofs zu einer Thüringer Coronaverordnung vom Herbst 2020, die noch auf der infektionsschutzrechtlichen Generalklausel im Infektionsschutzgesetz fußte, für unzulässig erachtet. Teils fehle eine Divergenz, teils die Entscheidungserheblichkeit, teils gehe es um eine Einzelfallfrage. Der VerfGH hatte klären lassen wollen, ob die grundrechtsintensiven Coronamaßnahmen damals eine ausreichende Rechtsgrundlage hatten.

Normenkontrollklage gegen auf Generalklausel gestützte Coronaverordnung

Die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag hatte sich mit einem abstrakten Normenkontrollantrag gegen die Thüringer Coronaverordnung vom 31.10.2020, die im November 2020 galt, gewandt. Gestützt war die Verordnung maßgeblich auf § 32 Abs. 1 IfSG in Verbindung mit der infektionsschutzrechtlichen Generalklausel in § 28 IfSG. Diese nicht auf die Coronapandemie zugeschnittenen Vorschriften ermächtigen die Landesregierungen, unter bestimmten Voraussetzungen durch Rechtsverordnungen Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Die auf die Coronapandemie zugeschnittene Ermächtigungsgrundlage in § 28a IfSG galt erst ab dem 19.11.2020.

VerfGH geht von Widerspruch zum LVerfG Sachsen-Anhalt aus

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof meint, die Generalklausel sei eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Verordnung gewesen, rief aber das BVerfG im Wege der Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG an, weil er der Ansicht war, mit seiner Rechtsauffassung bei der Auslegung des Grundgesetzes von zwei Urteilen des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt abzuweichen. Er unterbreitete dem BVerfG fünf Vorlagefragen. Die ersten beiden Fragen waren darauf gerichtet, ob eingriffsintensive Ge- und Verbote in Rechtsverordnungen in einer ungewissen Gefahrenlage - wie der Coronapandemie - für eine Übergangszeit auf eine Generalklausel gestützt werden dürfen, und nach welchen abstrakten Kriterien eine solche Übergangszeit zu bemessen sei. In der dritten und vierten Vorlagefrage ging es darum, ob an die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Exekutive im Hinblick auf die Bestimmung von Ordnungswidrigkeitentatbeständen nach Art. 103 Abs. 2 GG strengere Anforderungen zu stellen seien als an die Bestimmung der ihnen zugrundeliegenden Ge- und Verbote nach Art. 80 Abs. 1 GG. Die fünfte Frage hatte den Prüfungsmaßstab bei der Verletzung des landesverfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips zum Inhalt.

Keine Divergenz bei erster Vorlagefrage

Das BVerfG hat die Vorlage für unzulässig erachtet. Bei den ersten drei Fragen fehle ein Vorlagegrund. So bestehe bei der ersten Frage keine Divergenz zu dem in Bezug genommenen Urteil des LVerfG Sachsen-Anhalt (BeckRS 2021, 9552). Im Rahmen des Art. 100 Abs. 3 GG habe ein Landesverfassungsgericht die Entscheidung des BVerfG dann einzuholen, wenn es mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einer bestimmten, die Auslegung des Grundgesetzes betreffenden Frage, von einem ebensolchen Rechtssatz in einer Entscheidung des BVerfG oder eines anderen Landesverfassungsgerichts abweichen will. Das LVerfG habe aber die Frage, ob für eine Übergangszeit eine Generalklausel herangezogen werden könne, ausdrücklich offengelassen, weil ein Übergangszeitraum bei Erlass der dort angegriffenen Landesverordnung jedenfalls bereits abgelaufen gewesen sei.

Zweite Vorlagefrage betrifft lediglich Einzelfallfrage

Die zweite Vorlagefrage bezeichne zwar eine Divergenz mit dem LVerfG Sachsen-Anhalt, da nach dessen Ansicht ein dem Gesetzgeber möglicherweise einzuräumender Übergangszeitraum jedenfalls im Herbst 2020 nicht mehr bestanden habe. Die Vorlagefrage betreffe aber eine einzelfallbezogene Frage der Subsumtion, die von Art. 100 Abs. 3 GG nicht erfasst sei. Der VerfGH lege nicht dar, dass sich dem Urteil des LVerfG Sachsen-Anhalt ein seiner eigenen Rechtsauffassung widersprechender abstrakter Rechtssatz zu den an die Dauer eines Übergangszeitraums zu stellenden rechtsstaatlichen Anforderungen entnehmen lässt.

Dritte Vorlagefrage nicht entscheidungserheblich

Die dritte Vorlagefrage sei in dieser Allgemeinheit nach der eigenen Rechtsansicht des vorlegenden Gerichts nicht entscheidungserheblich. Sie sei auch dann unzulässig, wenn sie dahin verstanden wird, ob in einer mit Ungewissheiten behafteten Gefahrenlage zwar eingriffsintensive gefahrenabwehrrechtliche Ge- und Verbote für eine Übergangszeit lediglich auf eine Generalklausel gestützt werden könnten, dies jedoch wegen gesteigerter Bestimmtheitsanforderungen nach Art. 103 Abs. 2 GG nicht für deren Bußgeldbewehrung gelte. Denn das LVerfG Sachsen-Anhalt (BeckRS 2021, 9553) habe die so verstandene Frage nicht abweichend verneint. Vielmehr habe sie sich für dieses LVerfG nicht gestellt, da es bereits unter Geltung des neu in Kraft getretenen § 28a IfSG zu entscheiden hatte.

Vierte und fünfte Frage ebenfalls unzulässig

Für die vierte Vorlagefrage fehle es an einem tauglichen Vorlagegegenstand, da diese bloß die Anwendung des unter der dritten Vorlagefrage abgefragten verfassungsrechtlichen Maßstabs auf den konkreten Einzelfall betrifft. Eine Beantwortung der erweiternden fünften Vorlagefrage, für die kein eigenständiger Vorlagegrund bestehe, komme aufgrund der Unzulässigkeit der übrigen Vorlagefragen nicht in Betracht.

BVerfG, Beschluss vom 19.10.2022 - 1 BvN 1/21

Redaktion beck-aktuell, 17. November 2022.