Emily Soriano verlor Sohn in Dutertes Anti-Drogen-Krieg
Das Leben ihres Sohnes trägt Emily Soriano jetzt immer in einer blauen Mappe mit sich herum. Das Foto, wie Angelito so verschlafen in die Kamera guckt. Sein Schulausweis als Achtklässler. Dann, nur ein paar Tage vor seinem Tod, ganz stolz auf seinem lila Fahrrad. Schließlich: sein dünner Körper auf einem Steinboden, von Kugeln zerschossen, furchtbar verdreht. Es sind schon Ameisen darauf. Die linke Hand, ganz blutig, liegt vor dem Gesicht. Angelito war 15, als er kurz nach Weihnachten 2016 erschossen wurde, am 28. Dezember, in Bagong Silang, einem der Slum-Vororte der Hauptstadt Manila, zusammen mit sechs anderen Jugendlichen, zwei Mädchen und vier Jungen. Seine Mutter hatte am Nachmittag das letzte Mal Kontakt zu ihm, übers Handy. "Er hat mich gefragt, ob ich ihm Süßigkeiten mitbringen kann", erinnert sich die 49-Jährige in ihrer Baracke mit den vielen Christusbildern. An jenem Abend machte das Gerücht die Runde, dass es in einem Jugendtreff eine Polizei-Razzia gegeben habe, nach demselben Muster wie so oft: Zivilfahnder stürmen eine Wohnung, viele Schüsse fallen, dann liegen Tote auf dem Boden. Das Ganze passierte nur 150 Meter entfernt von den Sorianos. Emily schwört bei allen Heiligen, dass ihr Sohn nie Drogen genommen habe. Bei der Obduktion hatte er keine Spuren von Shabu oder sonstigen Drogen im Körper. Auch am Tatort wurde nichts gefunden. Die Polizei behauptet trotzdem bis heute, dass es eine Abrechnung zwischen Drogen-Gangs war.
Menschenrechtler schätzen mindestens 13.000 Todesopfer
Offiziell gibt es 4.100 Todesopfer des brutalen Anti-Drogen-Krieges, den Polizei und Militär auf den Philippinen führen, seit Präsident Rodrigo Duterte an die Macht kam. In ein paar Tagen geht der Feldzug ins dritte Jahr. Menschenrechtler schätzen, dass die Zahl der Toten viel zu niedrig angegeben wird. Sie gehen von mindestens 13.000 aus, manche sogar von 20.000 und mehr. Die genau Zahl kennt niemand. International gibt es viel Kritik. Aber Duterte macht weiter.
Emily unterstützte harte Anti-Drogen-Linie anfangs
Emily hatte Duterte 2016 nicht gewählt. Aber anfangs gehörte sie zu den Leuten, die seine harte Linie gut fanden. "Dass unser Land ein Drogenproblem hat, kann man nicht bestreiten", sagt sie. Der Inselstaat ist ein Riesenmarkt für die Drogenmafia. Zwischen zwei und vier Millionen Filipinos sollen Shabu verfallen sein. Vor allem die Armen versuchen, sich damit ihr Schicksal schön zu rauchen. Eine Zeitlang ging Emily in Bagong Silang auch selber von Haus zu Haus, klopfte an die Tür und fragte nach Verdächtigen. "Manche meinen, dass ich mit Angelitos Tod die Quittung dafür bekommen habe." Dagegen wehrt sie sich. Auch von Dutertes vollmundigen Sprüchen will sie nichts mehr wissen. Das Geprahle des Präsidenten, auch selbst schon Kriminelle erschossen zu haben, nennt sie "ekelhaft".
Anschluss an Aktionsbündnis Hinterbliebener
Die 49-Jährige gehört nun zu einem Aktionsbündnis von mehreren Dutzend Hinterbliebenen, die sich unter dem Namen "Rise Up" ("Steh' auf") zusammengeschlossen haben. Sie alle haben Angehörige verloren. Auffällig, dass viel mehr Frauen darunter sind als Männer: Mütter, Ehefrauen, Freundinnen. Anwälte helfen unentgeltlich, Zugang zu Polizeiakten zu bekommen. "Rise Up" berät, sammelt Namen, sucht Zeugen. Manchmal gehen die Mütter jetzt auch schon zusammen gegen Duterte auf die Straße. Auch Emily hat Klage eingereicht. "Natürlich habe ich Angst. Aber ich muss wissen, wer die Mörder meines Sohns sind. Irgendwo bei der Polizei muss es eine Akte zu der Razzia geben, aber die wird versteckt." So ist das heute auf den Philippinen, einem hochkatholischen Land. Kaum eine der "außergerichtlichen Tötungen", wie der offizielle Begriff lautet, hat die Polizei bislang aufgeklärt - kein Wunder, wenn sich der Verdacht so häufig gegen die eigenen Reihen richtet.
Immer noch hohe Zustimmung für Duterte in der Bevölkerung
Die eigentliche Schuld gibt Emily aber nicht der Nationalpolizei (Motto: "Dienen und schützen"), sondern Duterte. "Er ist es, der zur Rechenschaft gezogen werden muss. Niemand sonst", sagt die Mutter von ehemals neun Kindern. In den letzten Monaten hat der Präsident etwas Popularität verloren. Aber in Umfragen geben immer noch mehr als zwei Drittel der Filipinos an, dass sie mit ihm zufrieden sind. Gewählt ist der 73-Jährige bis 2022. Für viele seiner Landsleute ist der Anti-Drogen-Krieg wie ein Hollywood-Film: Solange die eigene Familie nicht betroffen ist, haben sie wenig dagegen. Dazu passt, dass sich Duterte - in Anlehnung an die von Clint Eastwood gespielte Filmfigur "Dirty Harry" - "Duterte Harry" nennen lässt. Dass es jetzt sogar eine Netflix-Serie darüber gibt, macht viele Filipinos sogar stolz. Der Regisseur von "Amo", Brillante Mendoza, hat früher Werbeclips für Duterte gedreht. Der Präsident kommt in den 13 Episoden nicht schlecht weg.
Tötungen durch "Todesengel"-Killerkommandos
Maria Victoria Dagohoy kann mit solchen Glorifizierungen nichts anfangen. Die 41-Jährige, ebenfalls aus Bagong Silang, hat erst am 20.03.2018 ihren Sohn verloren. Auch John Paul, der vor ein paar Tagen 18 geworden wäre, fiel dem Anti-Drogen-Krieg zum Opfer. Noch so eine typische Szene: Kurz vor Mitternacht, als er mit Freunden auf der Straße unterwegs war, rasten zwei Männer auf einem Motorrad heran und schossen. Dann verschwanden sie wieder im Verkehrschaos. Die Filipinos nennen solche Killerkommandos "Todesengel". John Paul wurde auf dem Bürgersteig, nicht weit weg vom Haus seiner Eltern, von fünf Kugeln getroffen. Seine Mutter hörte die Schüsse sogar, rannte hin. "Auf dem Weg zum Krankenhaus hat er noch versucht, die Augen offen zu halten. Aber dort ist er verblutet." Die 41-Jährige vermutet, dass ihr Sohn im Auftrag eines Beamten erschossen wurde, mit dem er Streit hatte. Oder dass er verwechselt wurde. Beweisen kann sie das nicht. "Mit Shabu", sagt sie, "hatte er jedenfalls nie etwas zu tun." Sie weint.
Internationale Kritik prallt ab
Inzwischen sind die Razzien weniger geworden. Das Land hat sich daran gewöhnt. Die internationale Kritik - von der EU, den USA, den Vereinten Nationen - weist die Regierung Duterte regelmäßig zurück. Alles geschehe nach Recht und Gesetz. "Wir brauchen niemanden von außerhalb, der denkt, dass er besser weiß als wir Filipinos, was zu tun ist", sagt Außenminister Alan Peter Cayetano. Manchmal kommt dann noch der Hinweis, dass auch schon 131 Polizisten starben.
"Rise Up"-Anwalt: "Regelrechte Infrastruktur für außergerichtliche Tötungen"
Auch auf den Philippinen gibt es nun aber immer mehr Leute, die Duterte nicht mehr alles durchgehen lassen wollen. Der Ex-Senator Neri Colmenares gehört zu den Anwälten, die "Rise Up" helfen. Mit drei bislang nicht aufgeklärten Fällen beschäftigt sich jetzt die Justiz - ein ziemlich winziger Fortschritt, aber immerhin. "Viele haben immer noch Angst, zu uns zu kommen", sagt Colmenares. "Die Leute werden systematisch eingeschüchtert und bedroht." Der Anwalt spricht von einer "regelrechten Infrastruktur für außergerichtliche Tötungen", gedeckt vom Präsidenten. "Duterte ist der Oberbefehlshaber. Er verlangt das. Er lässt das zu. Er stoppt die Ermittlungen. Die Killer haben überhaupt keine Angst, dass sie jemals vor Gericht kommen."
"Rise Up" hofft auf Unterstützung aus dem Ausland
"Rise Up" hofft deshalb auf weitere Unterstützung aus dem Ausland. Der Anwalt meint: "Duterte wird erst aufhören, wenn ihm seine Berater sagen, dass die Philippinen international zum Aussätzigen werden." Für die beiden Mütter aus Bagong Silang ist das ziemlich ferne Politik. Vor kurzem trafen sie sich zum ersten Mal auf dem Friedhof, wo ihre Söhne nun begraben sind. John Pauls Ruhestätte ist noch gar nicht fertig. Er liegt allein. Angelito teilt sich das Grab mit zwei anderen Jugendlichen, die bei derselben Razzia getötet wurden. Die Kirche hat es zur Verfügung gestellt. Die Sorianos haben noch kein eigenes Grab.