Hintergrund: Justiz deutlich über der Belastungsgrenze
Die Belastung der deutschen Justiz durch Massenverfahren wie dem Diesel-Skandal oder der Geltendmachung von Fluggastrechten habe vor allem an den Zivil- und Arbeitsgerichten über mehrere Jahre hinweg erheblich zugenommen, so der Deutsche Richterbund (DRB) in dem vorgelegten Abschlusspapier. Richterinnen und Richter, die mit solchen Verfahren befasst seien, arbeiteten teils deutlich über der Belastungsgrenze und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besonders betroffener Gerichte drohe zunehmend der Burnout. Ein Ende dieser Entwicklung sei nicht in Sicht. Daher bestehe erheblicher Handlungsbedarf, um die Arbeitsfähigkeit der Gerichte sicherzustellen und einem Vertrauensverlust in die Funktionsfähigkeit der Justiz, die durch Massenverfahren tatsächlich gefährdet werde, entgegenzuwirken.
Ressourcenschonung durch Änderung der ZPO
So könnten nach Ansicht des DRB durch bestimmte Änderungen des Zivilprozessrechts zeitnah Erleichterungen bei der Bearbeitung von Massenverfahren geschaffen werden. Der DRB plädiert insofern insbesondere für die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim zuständigen Revisionsgericht, verbunden mit der Schaffung der Möglichkeit der Aussetzung nach § 148 ZPO im Hinblick auf ein beim Revisionsgericht anhängiges Vorabentscheidungs- oder Revisionsverfahren. Außerdem spricht sich der DRB für die Möglichkeit aus, in Massenverfahren auch ohne Zustimmung der Parteien im schriftlichen Verfahren zu entscheiden. Dies würde die Ressourcen der Instanzgerichte schonen und Prozesskosten einsparen. In einfach gelagerten Massenverfahren, etwa in Fluggastrechtefällen, könnte ferner die Möglichkeit, in Massenverfahren auch ohne Zustimmung der Parteien aufgrund einer online durchgeführten Videoverhandlung entsprechend § 128a ZPO zu entscheiden, zur Ressourcenschonung beitragen.
Keine "Flucht in die Revisionsrücknahme" mehr
Zudem sollte eine über § 565 Satz 2 ZPO hinausgehende Möglichkeit eingeführt werden, grundsätzliche Rechtsfragen durch das zuständige Revisionsgericht auch bei Erledigung des Revisionsverfahrens vor Erlass des Urteils - sei es durch Revisionsrücknahme oder anderweitig - zu entscheiden. Dadurch könne eine "Flucht in die Revisionsrücknahme" zur Vermeidung einer für den Revisionsführer nachteiligen Grundsatzentscheidung des Revisionsgerichts verhindert werden. Der DRB spricht sich dafür aus, eine solche Entscheidungsmöglichkeit des Revisionsgerichts bei Vorliegen eines "objektiven Klarstellungsinteresses" einzuführen. Außerdem könne eine erhebliche Verfahrensbeschleunigung erreicht werden, wenn der Instanzenzug in Massenverfahren auf eine Tatsacheninstanz begrenzt würde.
Entsprechende Anpassungen in der Arbeitsgerichtsbarkeit
Zur Erleichterung der Bearbeitung arbeitsrechtlicher Massenverfahren schlägt der DRB außerdem mehrere Änderungen des Arbeitsgerichtsgesetzes vor, welches vielfach auf die ZPO verweist. Eine Klarstellung im ArbGG, dass in Massenverfahren bei Entscheidungen im schriftlichen Verfahren die Verkündung durch die Zustellung des Urteils ersetzt wird (§ 310 Abs. 3 ZPO), sei im Hinblick auf die Einbindung ehrenamtlicher Richterinnen und Richter essentiell. Zudem wäre eine gesetzliche Klarstellung erforderlich, dass die in Kündigungsschutzverfahren bestehende, besondere Prozessförderungspflicht (§ 61a ArbGG) der Aussetzung dieser Verfahren nicht entgegensteht. Die Aussetzungsentscheidung sollte ferner in Massenverfahren in allen Instanzen - auch in der Revisionsinstanz - ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richterinnen und Richter möglich sein. Schließlich spricht sich der DRB auch für eine Ausnahme von der in § 72 Abs. 3 ArbGG angeordneten Bindung des Bundesarbeitsgerichts an die Zulassung der Revision in Massenverfahren aus, soweit die aufgeworfenen Rechtsfragen zwischenzeitlich geklärt sind und die Revision keine Aussicht auf Erfolg hätte, das Berufungsgericht den Fall also "richtig" entschieden hat.
Vorgaben für den Parteivortrag und Ausschöpfung des Potentials der Digitalisierung
Ein weiteres Phänomen bei Masseverfahren sei das "Aufblähen" von Schriftsätzen mit Textbausteinen, die keinen erkennbaren Bezug zum konkreten Sachverhalt hätten, sowie eine fehlende Zuordnung der Anlagen. Insofern hält der DRB auch Vorgaben zu Struktur, Umfang und Zeitpunkt des Parteivortrags für sinnvoll. Klare, bindende und durchsetzbare Vorgaben brächten eine erhebliche Verfahrensbeschleunigung durch entsprechende Arbeitserleichterung für die Gerichte mit sich. Entsprechende Möglichkeiten seien bereits in mehreren Ländern Europas geschaffen worden, etwa in Irland, Luxemburg, den Niederlanden und Portugal. Insbesondere die bei zunehmender Digitalisierung zu erwartende Nutzung von Online-Tools biete Möglichkeiten, die Sachverhaltsdarstellung etwa durch Abfragemasken, deren Inhalt dann in eine automatisch generierte "Relationstabelle" umgewandelt werde, sinnvoll zu strukturieren. Die Digitalisierung und der Einsatz Künstlicher Intelligenz böten erhebliches Potential, der Justiz die Bearbeitung von Massenverfahren zu erleichtern. Schließlich spricht sich der DRB auch für die Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens für besonders standardisierte Fälle, etwa im Bereich der Fluggastrechte, aus.