djt-Präsident Radtke: "Keine depressive Grundhaltung, als ob wir nichts tun könnten"

Beim Juristentag treffen sich alle zwei Jahre Juristen aller Couleur, um Recht mitzugestalten. Ob eine rein sachorientierte Diskussion möglich ist, wieso er trotz Polykrise Aufbruchstimmung wittert und warum gerade junge Juristen sich beim djt engagieren sollten, erklärt Präsident Henning Radtke.  

beck-aktuell: Herr Professor Radtke, der 74. Deutsche Juristentag in Stuttgart ist Ihr erster Juristentag als Präsident. Was ist Ihre Aufgabe, sind Sie in dieser Funktion auch inhaltlich oder vor allem als Repräsentant tätig? 

Henning Radtke: Die inhaltliche Arbeit, die der Präsident leistet, findet vor allem im Vorfeld des Juristentags statt. Er ist eingebunden in die Organisation der Tagung als Vorsitzender der Ständigen Deputation, also des Vorstands des Vereins Juristentag, kann mit darüber entscheiden, welche Themen auf dem Juristentag behandelt werden. Außerdem wirkt er an der Umsetzung der Tagung mit.

Was der Präsident nicht mehr machen kann - und zugegebenermaßen ein bisschen vermisst -, ist die Mitwirkung in einer Abteilung als Vorstand. Das lässt sich einfach mit den sonstigen Aufgaben des Präsidenten nicht vereinbaren. Man darf Grußworte sprechen, die Begrüßung als solche organisieren und natürlich muss man sich auch um einen Teil der hochrangigen Gäste kümmern, die wir glücklicherweise hier haben, um eine starke Strahlkraft in die Politik hinein zu haben. 

"Aufbruchstimmung in vielerlei Hinsicht"

beck-aktuell: In Ihrer Eröffnungsrede am Mittwoch sprachen Sie es bereits an, auch in der Abteilung Öffentliches Recht geht es um die "Bewältigung zukünftiger Krisen". Nach meinem Eindruck ist die Krise längst gegenwärtig – und bestimmt auch hier beim djt in Stuttgart die Themen und die Gespräche. Wie nehmen Sie die Stimmung wahr? 

Radtke: Die Stimmung auf dem Juristentag selbst ist ausgesprochen gut und sehr gelöst. Und zwar unabhängig davon, dass alle sechs Fachabteilungen sehr ernste, wirklich herausfordernde Themen zum Gegenstand haben. Ich habe allerdings den Eindruck, dass der Bundesjustizminister am Mittwoch in seiner Rede den richtigen Ton getroffen hat: Er hat nicht in Abrede gestellt, dass wir in herausfordernden Zeiten leben. Er hat aber den aus meiner Sicht richtigen Hinweis gegeben, dass wir solche krisenhaften Herausforderungen auch in den vergangenen 75 Jahren unter der Geltung des Grundgesetzes hatten, aber mit dem Grundgesetz - und ich füge hinzu: auch mit den Landesverfassungen - doch so gute Grundlagen für unsere Staatlichkeit, vor allem für unsere Rechtsstaatlichkeit haben, dass wir den Herausforderungen begegnen können. Das prägt tatsächlich die Grundstimmung. Ich nehme insgesamt eher Aufbruchstimmung in vielerlei Hinsicht wahr und nicht etwa eine depressive Grundhaltung, als ob alles längst zu spät sei und wir nichts tun könnten.

beck-aktuell: Die Themen für den alle zwei Jahre stattfindenden Kongress werden jeweils fast zwei Jahre im Voraus festgelegt. Trotzdem sind sie häufig topaktuell. In diesem Jahr geht es im Gesellschaftsrecht um Klimaschutz, im Zivilrecht um Prozessfinanzierung, Massenverfahren und Fragen des Zugangs zum Recht, im Medienrecht unter anderem um die Rolle des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks, aber auch die von TikTok. Hat der djt hellseherische Fähigkeiten – oder verändert die juristische Welt sich langsamer als die echte Welt da draußen? 

Radtke: Die juristische Welt mag sich ein wenig langsamer drehen als die sonstige und ganz sicherlich etwas langsamer als die politische Welt in Berlin. Und natürlich verfügen wir nicht über hellseherische Fähigkeiten, aber über eine gute Struktur. Diese gute Struktur ist die Ständige Deputation, 24 Kolleginnen und Kollegen aus nahezu allen juristischen Professionen. Weil so viel Know-How, so viel Erfahrung und so viel Expertise aus unterschiedlichsten Bereichen zusammenkommt, haben wir es in den vergangenen Jahrzehnten immer geschafft, mit dem Vorlauf von fast zwei Jahren relativ präzise zu prognostizieren, was noch aktuell sein wird. 

"Wir lassen alle Interessen zu Wort kommen"

beck-aktuell: Das Besondere am djt ist, dass Juristinnen und Juristen aller Professionen aufeinandertreffen – es soll nicht um Lobbyismus für eine bestimmte Branche gehen, sondern um inhaltliche Diskussionen. Trotzdem wurden in der Vergangenheit im Arbeitsrecht schon zu Abstimmungen Gewerkschaftler in Bussen hergebracht, um bestimmte Abstimmungsergebnisse zu erreichen oder zu verhindern. Im Zivilrecht ging es am Mittwoch hoch her, als beim Thema Massenklagen eine Vertreterin der VW-Kanzlei Freshfields ein Stück weit Mitgefühl für die verklagten Unternehmen im Dieselskandal einforderte. Ist eine rein sachbasierte Diskussion nicht eine Illusion?   

Radtke: Nein, das glaube ich nicht. Auf der Ebene der Referentinnen und Referenten werden Themen aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Nach der ausführlichen Diskussion bringt ganz am Ende die Beschlussfassung zum Ausdruck, wer sich mit seinen Argumenten durchgesetzt hat. Mit dem Arbeitsrecht haben Sie ein kleines Negativbeispiel genannt, denn dort haben wir einen Gegensatz von Arbeitnehmerseite einerseits und Arbeitgeberseite andererseits, die es in anderen Rechtsbereichen so nicht gibt. Das hat gelegentlich sogar schon dazu geführt, dass in der arbeitsrechtlichen Abteilung nicht abgestimmt worden ist, weil keine der beiden Seiten das Risiko eingehen wollte, eine Abstimmungsniederlage zu erleiden.

Für den Deutschen Juristentag ist das etwas zwiespältig. Einerseits, weil wir gerade darauf ausgerichtet sind, eine Beschlussfassung herbeizuführen. Auf der anderen Seite bräuchte man sich, wenn wir aus Sicht der Akteure irrelevant wären, nicht der Abstimmung zu verweigern. Insofern haben wir als Juristentag auch da das Gefühl, auf einem guten Weg zu sein, indem wir alle Interessen zu Wort kommen lassen und uns als Verein nicht positionieren. 

Wenn sie mir die Bemerkung noch gestatten: Ich würde mich noch besser fühlen in unserer Gesellschaft, wenn dieses Klima der Bereitschaft, einander zuzuhören, das Argument der anderen zu hören, zu erkennen, dass auch da etwas Wahres dran sein könnte, und vielleicht die eigene bisherige Auffassung zu korrigieren, wenn diese Bereitschaft allgemein größer wäre, dann wären wir fast in einer idealen Gesellschaft.

"Rechtspolitisch, aber überparteilich"

beck-aktuell: Das aufgeheizte Klima, das Sie ansprechen, betrifft vor allem politische Fragen. Wie politisch ist eigentlich der Deutsche Juristentag? Kann man Politik aus dem gedachten Recht der Zukunft heraushalten? 

Radtke: Recht ist ganz sicher nicht unpolitisch. Es ist ein Mittel zur Gestaltung der Lebensverhältnisse, und schon deshalb hat es immer eine politische Komponente – dass wir den Begriff der Rechtspolitik verwenden, zeigt das ja auch. Es ist ausdrücklich unser Ziel, dass das, was wir hier an rechtspolitischen Vorschlägen erarbeiten, tatsächlich auch in ein Gesetzgebungsverfahren mündet. Insofern ist auch der Deutsche Juristentag in diesem Sinne nicht unpolitisch. 

Aber er ist eindeutig überparteilich, und er steht außerhalb von Standesinteressen. Hier reden der Deutsche Anwaltverein und der Deutsche Richterbund miteinander, ihre Vertreter sind auf denselben Empfängen, sie haben dieselben Probleme und sie diskutieren in einer gelösten Atmosphäre miteinander, in der es nicht immer darum geht, zu zeigen, dass man jetzt gerade als besonders engagierter Verbandsvertreter auftritt. 

beck-aktuell: Anstöße des Deutschen Juristentags können nur in die nationale Gesetzgebung einfließen. Ein Großteil des Rechts, mit dem wir umgehen, kommt aber mittlerweile aus Europa. In Ihrer Eröffnungsrede sprachen Sie einen Europäischen Juristentag an. Wird es bald einen solchen geben? 

Radtke: Ich jedenfalls hoffe sehr darauf, aus den von Ihnen genannten Gründen. Es gab in der Vergangenheit immerhin schon sieben Europäische Juristentage in sieben verschiedenen Ländern. Es ist aber eine noch größere Aufgabe, einen Europäischen Juristentag zu organisieren als einen nationalen Juristentag, obwohl die Notwendigkeit da ist. 

Außerhalb des deutschsprachigen Bereichs gibt es zudem keine wirkliche Tradition von Juristentagen. Natürlich gibt es überall im europäischen Ausland eine Vielzahl von Fachgesellschaften. Diese sind aber eben sehr schmal ausgerichtet, bedienen also regelmäßig ein Rechtsgebiet. Eine fach- und teilrechtsgebietsübergreifende Gruppierung aber, die weltanschaulich neutral und überpolitisch in dem von mir genannten Sinne agiert, gibt es so nicht. 

Wir haben erst heute mit den österreichischen Kollegen zusammengesessen und gemeinsam nach Strategien gesucht und dabei natürlich auch die in der Entstehung begriffene Europäische Kommission noch einmal durchgemustert auf mögliche Ansprechpartner, bei denen man vielleicht die Hoffnung haben kann, dass sie diesem Gedanken nähertreten. Sie sehen, wir sind nicht untätig. 

"Die Möglichkeit, den Staat und die Gesellschaft mitzugestalten"

beck-aktuell: Sie haben am Mittwoch auch mit den Studierenden gesprochen, mit den Referendarinnen und Referendaren in einer speziell für sie konzipierten Veranstaltung. Die war wirklich gut besucht, es wurde aber auch vehement zum Beispiel mehr Digitalisierung eingefordert. Wo könnte und wo müsste der Deutsche Juristentag vielleicht moderner werden? Und warum sollten sich gerade junge Juristinnen und Juristen heute schon beim djt engagieren? 

Radtke: Digitalisierung ist natürlich ein wichtiges Stichwort, darüber diskutieren wir im Vorstand bezüglich verschiedener Elemente sehr intensiv. Darüber hinaus versuchen wir den Juristentag besonders attraktiv für die jungen Kolleginnen und Kollegen zu machen, indem sie deutlich weniger Beiträge zahlen als ältere Vollmitglieder.

Junge Juristinnen und Juristen sollten sich unbedingt auch weiterhin im Deutschen Juristentag engagieren, weil ihnen das die Möglichkeit gibt, sich unabhängig von dem, was sie später im Hauptberuf tun, an unserer Gesellschaft und dem Recht zu beteiligen, das diese prägt. Sie können Einfluss nehmen und die Entstehung von Gesetzen nicht ausschließlich den Debatten im parlamentarischen Raum überlassen, sie können diesen Staat, diese Gesellschaft mitgestalten. Ich glaube, es gibt, jedenfalls soweit es um die Rechtsetzung geht, kein besseres Forum als die Mitgliedschaft im Deutschen Juristentag und das Mitwirken auf eben diesem, um genau das zu tun. 

Ich habe die Veranstaltung für die Studierenden und die Referendare und Referendarinnen über viele Jahre selbst begleitet, das war immer unglaublich fruchtbar. Wenn es uns gelingt, auch nur die Hälfte derjenigen, die an unserer Veranstaltung teilnehmen, an den djt zu binden, dann bin ich am Ende des Tages ein sehr, sehr glücklicher Mensch.

Prof. Dr. Henning Radtke ist Richter im Ersten Senat des BVerfG. Er ist seit vielen Jahren Mitglied und seit 2022 Vorstand der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags. Damit ist er auch Präsident des 74. Deutschen Juristentags in Stuttgart. 

Das Gespräch führte Pia Lorenz. 

Redaktion beck-aktuell, Pia Lorenz ist Chefredakteurin von beck-aktuell und Mitglied der Schriftleitung der NJW, 26. September 2024.