Nach Australien auszuwandern hatte Kerstin Braun eigentlich nie geplant. Im Jahr 2009 kam sie mit einem Rotary Stipendium zum LL. M.-Studium nach Brisbane, der drittgrößten Stadt Australiens. Zwei Semester dauerte das Masterprogramm an der University of Queensland (UQ). In dieser Zeit lernte die damals 29-Jährige ihren heutigen Ehemann kennen, einen Australier. Nach ihrem Abschluss begann sie als Rechtsanwältin im Berliner Büro von Baker McKenzie. Rund 15.700 Kilometer lagen damals zwischen ihr und ihrem Partner – zu viele.
"Ich wollte zurück nach Brisbane", sagt die gebürtige Münsteranerin. Weil sie immer schon gerne wissenschaftlich gearbeitet habe, bewarb sie sich für ein Ph.D-Studium an der juristischen Fakultät der UQ. Es sei nicht einfach gewesen, den Platz zu bekommen. Brisbane ist mit ganzjährigen Sommertemperaturen und nahegelegenen Traumständen beliebt bei Studierenden. Die UQ gehört zu den größten und ältesten Unis Australiens und hat auch international einen guten Ruf.
"Ich musste mir einen Doktorvater suchen und einen sehr detaillierten Vorschlag für ein Forschungsprojekt einreichen", sagt sie. Braun entschied sich für eine rechtsvergleichende Untersuchung zur Rolle des Opfers in Strafverfahren. Eine Kommission habe dann ihre Bewerbung geprüft. 2011 kündigte sie ihren Anwaltsjob und flog zurück nach Down Under.
Mit deutschem Staatsexamen in die australische Lehre
Der Ph.D – Abkürzung für Doctor of Philosophy – richtet sich in Australien vor allem an Absolventen, die eine wissenschaftliche Karriere planen. Die deutsche Unterteilung in Promotion und Habilitation gibt es nicht. An der UQ werde sehr strikt darauf geachtet, dass die Arbeit innerhalb von drei bis vier Jahren abgeschlossen wird. Bereits nach einem Jahr müssten Studentinnen und Studenten ihre Forschungsergebnisse vor einem Gremium verteidigen. So soll laut Braun ein spätes Scheitern verhindert werden.
"Finanziell war die Zeit eine Herausforderung", sagt die Juristin. Sie bekam für ihre Arbeit zwar ein Stipendium von der australischen Regierung. Braun musste keine Studiengebühren zahlen und erhielt einen monatlichen Zuschuss zu den Lebenshaltungskosten. Dies habe aber kaum gereicht. Um zusätzlich Geld zu verdienen, gab sie an der Uni Kurse in Strafrecht und Kriminologie.
Die Lehrerfahrung sei ihr später bei der Jobsuche zugutegekommen. Nachdem sie den Ph.D 2014 beendet hatte, fand sie schnell eine Stelle an der University of Southern Queensland (UniSQ) im Fachbereich Straf- und Strafprozessrecht. Dass sie ein deutsches Staatsexamen hat und keinen australischen Bachelor-Abschluss, war für den Einstieg in die Lehre kein Hindernis. Problematisch sei dies nur, wenn sie als Anwältin arbeiten wolle. "Ich hatte Glück und habe gleich einen unbefristeten Vertrag bekommen", sagt sie. Mittlerweile gebe es auch an australischen Unis für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer häufiger nur Zeitverträge.
38-Stunden-Woche, vier Wochen Urlaub und eine Auszeit
Seit fast zehn Jahren unterrichtet Braun jetzt an der UniSQ, erst als "Lecturer", dann als "Senior Lecturer" und mittlerweile als "Associate Professor". Nachwuchsdozenten werden nach dem australischen System bei guten Leistungen in Lehre und Forschung stufenweise befördert. Wenn alles gut läuft, steht bald die Beförderung zum "Professor" an. Seit etwa einem Jahr ist sie außerdem "Associate Head (Research)" an der Law School und damit Ansprechpartnerin für alle Belange der Forschung.
Die Juristin arbeitet in Vollzeit 38 Stunden pro Woche und hat Anspruch auf vier Wochen Urlaub im Jahr. Nach zehn Jahren bekommt sie für drei Monate eine bezahlte Auszeit, den "Long Service Leave". "Ich steuere mit großen Schritten darauf zu", sagt Braun. Sie habe zweimal für ein Jahr Elternzeit genommen und in dieser Zeit Geld vom Arbeitgeber und von der australischen Regierung bekommen. Danach habe sie recht schnell wieder in Vollzeit gearbeitet. Die Gehälter für das akademische Personal an australischen Unis seien gut – tendenziell sogar besser als in Deutschland.
Die UniSQ hat mehrere Standorte in Queensland. Braun unterrichtet in Toowoomba und Ipswich. Die Juristin wohnt immer noch in Brisbane – zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen. Die Arbeitsbedingungen seien sehr flexibel. Homeoffice sei möglich – vor allem seit Corona. Zu den Vorlesungen pendelt Braun. An den Linksverkehr in Australien habe sie sich schnell gewöhnt. Kurios für sie als Deutsche seien einige Dinge aber dennoch: Zum Beispiel, wenn die Uni ihre Mitarbeiter morgens per E-Mail vor Känguru-Kot auf dem Campus-Parkplatz warne.
Kompliziertes Strafrecht per Fernstudium
Das Jura-Studium an der UniSQ unterscheide sich in vielen Punkten von der deutschen Ausbildung, erklärt Braun. Die Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden sei sehr persönlich. "Wer seinem Professor oder seiner Professorin eine E-Mail schreibt, bekommt sehr schnell eine Antwort". Studentinnen und Studenten müssten allerdings auch hohe Studiengebühren zahlen.
Die Präsenz-Kurse auf dem Campus seien klein. Vorlesungen mit mehreren hundert Kommilitonen und Kommilitoninnen in einem Hörsaal, wie Braun sie von ihrem Studium in Münster kennt, gebe es nicht. Die UniSQ habe sich vor allem auf Fernlehre spezialisiert. Etwa 75% aller Studierenden seien für das Online-Studium eingeschrieben. Im dünn besiedelten Australien hat das Fernstudium eine lange Tradition. "Wem ein Jurastudium in Präsenz nicht möglich ist, der kann einen Abschluss machen, ohne einen Fuß auf den Campus zu setzen", sagt die Juristin.
Auch inhaltlich gebe es viele Abweichungen zu Deutschland. "Das australische Strafrecht ist kompliziert", erklärt Braun. Für einige Bereiche gelte Bundesrecht, für andere Bereiche das Strafrecht der australischen Bundestaaten. Einige Länder seien "Common Law States" und andere "Code States", teilweise setzten also Präzedenzfälle den Maßstab, teilweise das Gesetzesrecht. Queensland sei ein "Code State". Hier gelte der Griffith Code.
Weihnachten am Strand
In Rahmen ihrer Forschung habe sie viele Freiheiten, sagt Braun. Bislang war sie als Gastdozentin an der Universität Bonn und für einen zweimonatigen Forschungsaufenthalt am Max-Planck-Institut in Freiburg. Aktuell beschäftigt sie sich vor allem mit dem Thema Sterbehilfe. In Australien habe sich in den vergangenen Jahren sehr viel getan. In vielen Bundesstaaten gebe es mittlerweile Gesetze, die Sterbehilfe in einem bestimmten Rahmen ermöglichen, sagt die Juristin.
2016 wurde Braun in Australien eingebürgert und hat jetzt die doppelte Staatsbürgerschaft. Besonders gefällt der Juristin die Lockerheit und die Freundlichkeit der Australier. Wer aus dem Bus aussteige, bedanke sich beim Fahrer. Die erste Frage sei immer "How are you doing? – Wie geht es dir?" egal, ob man im Supermarkt an der Kasse stehe oder ein Business-Telefonat führe. Grundsätzlich sprächen sich in Australien alle beim Vornamen an – dies gelte auf allen Hierarchieebenen. Für viele ihrer Studierenden sei sie deshalb "Kerstin". Trotz aller Entspanntheit sei die Arbeitsmoral sehr hoch und der Job werde sehr ernst genommen.
Dinge, die sie in Australien stören, gebe es kaum. "Ich vermisse Schnee und Glühweintrinken auf dem Weihnachtsmarkt", sagt Braun. Von Dezember bis Februar sei es in Brisbane am heißesten. Viele feierten Weihnachten deshalb am Strand. Das fühle sich schon eigenartig an. Vor allem ihre Eltern, die noch in Münster leben, würden ihr fehlen. Über eine Rückkehr nach Deutschland denkt die Juristin deshalb schon manchmal nach: Man soll ja niemals nie sagen.