Nach Putschversuch hartes Vorgehen gegen Justizangehörige
Nach der Verhängung des Ausnahmezustands im Juli 2016 wurden in der Türkei Regierungsangaben zufolge rund 150.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen. Im Justizwesen wurden über 3.800 Richter und Staatsanwälte ihres Amtes enthoben. Das ist mehr als ein Viertel der insgesamt 14.000 Richter und Staatsanwälte im Land. Auch mehrere Anwälte wurden unter Terrorverdacht inhaftiert. Erst am 21.09.2017 hatte ein Gericht in Istanbul Untersuchungshaft gegen 14 Anwälte wegen Terrorverdachts erlassen.
Unabhängige Justiz in Gefahr
Schellenberg sagte, sein Verband habe das Land im Januar und Juni 2017 besucht. Schon zu Jahresbeginn seien Anwälte verhaftet worden und Repressionen zu beobachten gewesen. "Die Situation ist aber in den letzten Wochen und Monaten dramatisch schlechter geworden." Präsident Recep Tayyip Erdogan versuche, unter Richtern und Anwälten ein "System der Angst" zu schaffen. "Das ist Gift für die unabhängige Justiz."
Betreuung Inhaftierter durch Anwälte erschwert
Auch für Inhaftierte, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen würden, sei die Lage sehr schwierig. "Die Anwälte dürfen sich bei Treffen mit ihren Mandanten keine Notizen machen. Die Gespräche werden mit Videokameras aufgezeichnet. Es gibt kein Anwaltsgeheimnis. Das ist ganz einfach nicht rechtsstaatlich." Ankara beschuldigt Anhänger des Predigers Fetullah Gülen, mitverantwortlich für den Putschversuch im Juli 2016 zu sein. Schellenberg sagte, unter diesen Bedingungen sei eine Anwaltsbetreuung nur schwer möglich. Das gelte auch für die inhaftierten Deutschen in der Türkei.
Auch mehrere Deutsche in Haft genommen
Derzeit befinden sich mehrere Deutsche wegen des Verdachts politischer Straftaten in türkischer Haft, etwa wegen mutmaßlicher Unterstützung von Terroristen oder Putschisten. Darunter sind der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel und der Menschenrechtler Peter Steudtner. Die Inhaftierungen sorgen – neben anderen Streitpunkten – für schwere Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei.
Gefahr auch für deutsche Anwälte
Schellenberg äußerte auch Sorge über mögliche Risiken für deutsche oder deutsch-türkische Anwälte, die beruflich in der Türkei zu tun haben. "Das Vorgehen der türkischen Behörden wirkt unglaublich willkürlich. Und wenn Sie mit einer willkürlichen Verhaftung rechnen müssen, dann kann es jeden treffen", sagte er. "Deshalb ist überhaupt nicht auszuschließen, dass – so wie deutsche Journalisten – auch deutsche Anwälte festgenommen werden und im Gefängnis landen." Er riet seinen Berufskollegen zu "sehr großer Vorsicht und Umsicht" bei ihrer Arbeit.
Türkei hat Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen
"Diese Entwicklung in der Türkei, diese systematische Verfolgung Andersdenkender, hätte ich mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können", beklagte der Verbandschef. "Das ist kein Rechtsstaat mehr. Das sind autoritäre Strukturen. Es gibt keine Unschuldsvermutung. Es gibt keine effektive Verteidigung. Es gibt keine unabhängige Justiz."