Alexander Ignor, Vorsitzender des BRAK-Strafrechtsausschusses, zugleich Verfassungsrechtler und außerplanmäßiger Professor an der Berliner Humboldt-Universität, zeigte sich einigermaßen zerknirscht. Er war der Verteidiger jenes Advokaten, den der BGH vor zwei Jahren wegen "Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt" (§ 266a StGB) verurteilt hat (Urteil vom 08.03.2023 – 1 StR 188/22). Jener Alleininhaber hatte die zwölf Anwälte seiner Kanzlei als "freie Mitarbeiter" behandelt, obwohl sie dem Karlsruher Richterspruch zufolge Scheinselbstständige waren. Das sei das einzige Mal in seinem Berufsleben gewesen, dass er als Konfliktverteidiger bezeichnet worden war, sagte Ignor amüsiert bis empört. Wenn schon keinen Freispruch, so habe er zumindest eine Einstellung des Verfahrens erreichen wollen, berichtete er auf einer Veranstaltung an seiner Hochschule. Doch der 1. Strafsenat habe sich unerbittlich gezeigt und ihm sogar ein Telefonat verweigert. Ob Trauma oder geschärfter Realitätssinn: "Seither sehe ich überall Scheinselbstständige – darunter solche, die das von sich selbst gar nicht wissen."
Die obersten Strafrichter hatten damals weitreichende Leitsätze aufgestellt. "Für die Abgrenzung von sogenannten scheinselbstständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung maßgebend", befanden sie. "Soweit die Kriterien der Weisungsgebundenheit und Eingliederung wegen der Eigenart der Anwaltstätigkeit im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren, ist vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen." Und weiter: "Beitragszahlungen von Schwarzarbeitern und illegal Beschäftigten aufgrund einer mit dem Arbeitgeber getroffenen Vereinbarung lassen nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit des § 266a Abs. 1 und 2 StGB entfallen, sondern sind erst auf der Ebene der Strafzumessung zu berücksichtigen."
Fatale Zusatzvereinbarung
Obwohl sich das Tatgeschehen über vier Jahre lang erstreckte, kam der Angeklagte mit glimpflichen 118.850,58 Euro Strafe davon. Er hatte nämlich immerhin dafür gesorgt, dass sich seine zwölf "Freelancer" im Wesentlichen selbst versicherten. "Einen autonomen Arbeitgeberbegriff enthält das StGB nicht", machten die Bundesrichter sich einen ziemlich schlanken Fuß: "Ob eine Person Arbeitgeber ist, richtet sich nach dem Sozialversicherungsrecht, das weitgehend auf das Arbeitsrecht Bezug nimmt", heißt es in ihrem Entscheid unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV. Wie schon das LG Traunstein kreideten sie dem Juristen vor allem eine Zusatzvereinbarung zu den Verträgen mit seinen "Freien Mitarbeitern" an. Demnach behielt er sich die Zustimmung vor, wenn die Zwölf eigenes Personal beschäftigen, Werbung treiben oder Mandate außerhalb seiner Kanzlei bearbeiten wollten. Sie waren nur für ihn tätig, und er wies ihnen auch die jeweils zu bearbeitende Materie zu. Praktizieren mussten sie in seinen Räumen und durften im Gegenzug sein Personal sowie seine Infrastruktur nutzen. Besonders heikel: Das vereinbarte Jahreshonorar riefen die Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen regelmäßig einmal pro Monat anteilig per Rechnung an ihn ab – "unabhängig von dem durch sie in dem jeweiligen Abrechnungszeitraum erwirtschafteten Umsatz".
Angesichts dieser Akzessorietät des Straf- vom Sozialrecht fand Rainer Schlegel, Ex-Präsident des BSG, kritische Worte zu dem Gesamtsystem. Er war dort zeitweise auch Vorsitzender jenes Senats, der den Status von Menschen feststellt, von denen die Sozialkassen gegen deren Willen Beiträge eintreiben wollen. Den konkreten Fall hätte er als Sozialrichter zwar wohl genauso entschieden, sagte er auf derselben Veranstaltung. Die klassischen Abgrenzungskriterien seien nun einmal Weisungsabhängigkeit und Eingliederung in den jeweiligen Betrieb. Und das gelte von Gesetzes wegen nicht nur für Arbeitnehmer, die wirklich schutzbedürftig seien, sondern gehe angesichts moderner Arbeitsformen weit darüber hinaus: "Vielen hochgradig qualifizierten Leuten kann man gar keine Weisungen erteilen, weil sie als Einzige wissen, wie sie ihre Aufgabe erledigen können."
Schlegel: Sie arbeiten nicht "nine to five", sondern mit einem Laptop, "wann und wo sie wollen". Und für kleine Arbeitgeber wie einen Bäckermeister bringe die derzeitige Lage eine enorme Rechtsunsicherheit mit sich. Der einst oberste Sozialrichter Deutschlands macht sich manchmal, wenn er abgedruckte Urteile liest, den Spaß, sich erst einmal auf den Sachverhalt zu beschränken und dann zu überlegen, wie er selbst entscheiden würde. "Oft ganz anders", beantwortete er seine eigene Frage. Sein Resümee: Freiberufler wie etwa Rechtsanwälte seien unter anderem durch ihre Versorgungswerke ausreichend sozial abgesichert; da sei ihr juristischer Status völlig "wurscht". Daher: "Man soll den Leuten die Freiheit lassen!" Schlegels Rat an die Beraterzunft: Die Anwaltschaft müsse Druck auf die Politik machen, um Ausnahmeregelungen wie im Gesundheitswesen zu erreichen.
"Der Todesstoß waren die Festgehälter"
Die Arbeitsrechtlerin Sonja Günther aus der Kanzlei Kliemt sah in der Rechtsprechung von BAG und BSG – trotz Unterschieden bei der Definition von Scheinselbstständigkeit in beiden Rechtsgebieten – keinen Gegensatz zu der Unabhängigkeit, die Anwältinnen und Anwälten gesetzlich garantiert und sogar vorgeschrieben ist. Denn die betreffe nur die inhaltliche Seite, erklärte sie. Was Volker Römermann, Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG mit Sitz an neun Standorten, nicht ganz anders einschätzt. Der umtriebige Berufsrechtsrebell und unter anderem auch intensiv im Insolvenzrecht tätige Anwalt verwies zwar auf zahlreiche Vorschriften in der BRAO und weiteren Gesetzen, die seinem Berufsstand Selbstbestimmung sicherten und auferlegten. Allerdings habe der damals angeklagte "Patriarch" mit der Zusatzvereinbarung ("wie ein Kassiber unterm Tisch") unklug gehandelt. Dass dessen Anwälte aber beispielsweise mitteilen mussten, wenn sie acht Wochen Urlaub in der Karibik machten, sei nur logisch. "Der Todesstoß waren wohl die festen Gehälter." Ähnlich wie Ignor stellte auch Römermann fest: Seit 1998 habe es fünf Gesetze gegeben, die die Rechte der Sozialversicherungsträger in diesem Bereich ausgeweitet hätten. "Seither ist der freie Mitarbeiter praktisch tot – vorher war diese Konstruktion gang und gäbe."
Einen ganz anderen Aspekt brachte Boris Bröckers ein, Strafrichter am LG Berlin I und derzeit abgeordnet an einen anderen BGH-Strafsenat. Ihn wundere, dass jener Prozess überhaupt bis nach Karlsruhe gelangt sei, sagte er. Viel größere Fälle würden oft nur am AG behandelt und müssten wegen der "enormen Vorsatzproblematik" bei Beteiligten eingestellt werden. Selbst wenn es um Millionenbeträge gehe, die den Sozialversicherungen mittels Strohfirmen vorenthalten würden.