DAV pocht auf Unmittelbarkeit richterlicher Beweiswürdigung

Anlässlich des Deutschen Juristentags (djt) warnt der Deutsche Anwaltverein (DAV) vor der Aufgabe des Unmittelbarkeitsprinzips bei der richterlichen Beweiswürdigung. Die Rechte der Verteidigung würden beschnitten, wenn lediglich eine aufgezeichnete Zeugenvernehmung abgespielt wird, betonte der DAV am Mittwoch. Prozessökonomische Erwägungen müssten gegenüber dem Fair-Trial-Grundsatz hintanstehen, heißt es in der Mitteilung.

Übernahme von Zeugenaussagen aus Ermittlungsverfahren derzeit nur in bestimmten Fällen

Nur in wenigen Fällen könne die Aufzeichnung einer Zeugenaussage im Ermittlungsverfahren eine Vernehmung in der Hauptverhandlung ersetzen. Bei minderjährigen Zeuginnen und Zeugen im Kontext von Sexualstraftaten sehe die Strafprozessordnung (§ 255a StPO) diese Möglichkeit bereits vor. Der DAV kritisiert Überlegungen im Rahmen des djt, dies auszuweiten.

DAV: Hauptverhandlung mitnichten bloße Wiederholung des Ermittlungsverfahrens

"Nach einem Ermittlungsverfahren, das in den Händen eines gut ausgestatteten staatlichen Apparates liegt, hat die Verteidigung in der Hauptverhandlung in aller Regel erstmals die Möglichkeit, Zeuginnen und Zeugen mit ihrer Aussage zu konfrontieren und geschilderte Sachverhalte zu hinterfragen", sagte Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht des DAV. Die Hauptverhandlung sei mitnichten eine bloße Wiederholung oder gar Bestätigung des polizeilichen Ermittlungsverfahrens.

Prozessökonomische Erwägungen sollten Unmittelbarkeitsprinzip nicht aushebeln

"Es mag in den bereits gesetzlich geregelten Einzelfällen gute Gründe für die Vorführung einer aufgezeichneten Zeugenvernehmung statt einer erneuten richterlichen Vernehmung geben, etwa den Opferschutz. Dabei ist es aber auch zu belassen", betonte Conen. Insbesondere seien prozessökonomische Erwägungen nicht geeignet, das Unmittelbarkeitsprinzip auszuhebeln.

Unmittelbarkeitsprinzip als Ausdruck verfassungsrechtlich garantierten Fair-Trial-Grundsatzes

Das Unmittelbarkeitsprinzip besage, dass das Gericht den entscheidungserheblichen Beweisstoff selbst wahrnehmen muss, heißt es in der DAV-Mitteilung. Dabei müsse das Gericht das "sachnächste", also das möglichst unmittelbare Beweismittel nutzen – in dieser Konstellation also den Zeugen selbst und nicht eine Aufzeichnung seiner Befragung durch Dritte. Dieses Prinzip sei nicht einfach juristischer Dogmatismus, sondern Ausdruck des verfassungsrechtlich garantierten Fair-Trial-Grundsatzes. Auch im Sinne der Wahrheitsfindung ist es nach Ansicht des DAV geboten, an der richterlichen Aufklärung von Sachverhalten festzuhalten und diese nicht durch unkritischen Transfer polizeilicher Arbeit in die Hauptverhandlung zu ersetzen.

Redaktion beck-aktuell, 21. September 2022.