DAV gegen Absenkung der Strafmündigkeit

Seit der Tötung einer Zwölfjährigen durch zwei Mitschülerinnen in Freudenberg werden Stimmen laut, die eine Absenkung der Strafmündigkeit fordern. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat sich in einer Stellungnahme dagegen ausgesprochen. Die aktuelle Strafmündigkeitsgrenze habe sich bewährt. Daran änderten auch "bestürzende Einzeltaten von noch nicht strafmündigen Kindern nichts."

DAV sieht keinen Grund für Absenkung

Der DAV erinnert an die Anfänge des Jugendgerichtsgesetzes, das vor 100 Jahren in Deutschland eingeführt wurde, und das auf einem Entwurf des Strafrechtslehrers, Rechtsphilosophen und Justizministers Gustav Radbruch beruht. Einer der zentralen Punkte des Gesetzes und eine Errungenschaft sei die Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze auf 14 Jahre gewesen. Diese Strafmündigkeitsgrenze – nur kurz unterbrochen durch die nationalsozialistisch begründete Absenkung auf zwölf Jahre ("zum Schutze vor jungen charakterlich abartigen Schwerverbrechern") – habe sich seit 1953 bewährt und es gebe keinen Grund, sie abzusenken, so der DAV.

Absenkung würde Kindern nicht gerecht

Eine – wie nun im Fall aus Freudenberg – reflexhaft in die Öffentlichkeit getragene Forderung nach einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze befriedige lediglich Ressentiments, gehe aber an der Realität vorbei und werde den Kindern nicht gerecht, um die es gehe, so der DAV weiter. Kriminologisch lasse sich gerade keine immer früher einsetzende und immer schwerwiegendere Delinquenz feststellen. Ein solcher "Trend" sei nicht abbildbar. Es treffe auch nicht zu und lasse sich psychowissenschaftlich nicht belegen, junge Menschen unter 14 Jahren seien heutzutage "reifer" als früher.

DAV setzt auf Prävention, Früherkennung und Intervention

Vielmehr drängten sich einer rationalen Kriminalpolitik andere Fragen auf: Was sind die Ursachen für (frühe) Delinquenz? Wo liegen gesellschaftliche Stellschrauben, um präventiv gegen (frühe) Delinquenz vorzugehen, um junge Menschen zu stärken und davor zu schützen, Täter und/oder Opfer von Straftaten zu werden? Welche Frühwarnsysteme und Interventionsmöglichkeiten gibt es, welche sind erforderlich? Es gehe mithin um Prävention, Früherkennung und (außerstrafrechtliche) Intervention, so der DAV. Nicht Strafe sei das, was man den Kindern und jungen Menschen schulde, sondern, "dass man sie ernst nehme, dass man ihnen Unterstützung und Chancen biete und dass man frühzeitig Möglichkeiten schaffe, um möglichst Delinquenz zu verhindern, die über das Bagatellhafte, Ubiquitäre hinausgeht."

Ziele des Jugendgerichtsgesetzes im Auge behalten

Wer dagegen nach Einzelfällen eine Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze fordere und die Vergeltung für jenen Einzelfall, der nicht ungesühnt bleiben dürfe, als erforderliche Antwort proklamiere, verkenne die Ziele des Jugendgerichtsgesetzes und stelle das Jugendstrafrecht in seiner überzeugenden Gesamtkonzeption auf den Kopf, heißt es in der Stellungnahme weiter. Mit der Betonung und gar argumentativer Zugrundelegung absoluter Straftheorien würden sich die Befürworter einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze von den leitenden Grundgedanken des Jugendgerichtsgesetzes entfernen, insbesondere des Erziehungsprimats, und – ausgerechnet – den Allerjüngsten nicht länger Rechnung tragen.

Altersgrenzen berücksichtigen Entwicklungs- und Reifeprozesse

Mit der Festlegung bestimmter Altersgrenzen – der Strafmündigkeitsgrenze (ab 14 Jahre), der relativen Strafmündigkeit Jugendlicher (unter 18 Jahre) und der Möglichkeit, Heranwachsende (unter 21 Jahre) nach Jugendstrafrecht zu sanktionieren – habe der Gesetzgeber aus gutem Grund die Besonderheiten der Entwicklungs- und Reifeprozesse junger Menschen berücksichtigt. Das finde insbesondere Ausfluss im Erziehungsgedanken, dem Kernstück des Jugendgerichtsgesetzes, und in der Fokussierung auf ein Täter-, nicht ein Tatstrafrecht, stellt der DAV weiter klar. Es gebe auch keine validen (entwicklungs-)psychowissenschaftlichen Parameter, anhand derer man pauschalierend festmachen könnte, ab welchem kalendarischen Alter von "Reife" auszugehen sei. Ihre Bestimmung sei im Rahmen des Jugendgerichtsgesetzes und -verfahrens schwierig und stelle die Beteiligten oft vor große Herausforderungen.

"Den" Jugendlichen gibt es nicht

Der Anwaltverein weist in der Stellungnahme darauf hin, dass die Entwicklung ein komplexer Prozess sei, den viele Faktoren beeinflussten, unter anderem Genetik, Temperament, Umfeld. Die Entwicklung kenne keine kontinuierliche Dynamik im Sinne eines geradlinigen Fortschreitens, sondern sei geprägt durch Unterbrechungen, Pausen, Sprünge und Rückschritte. Es gebe erhebliche Varianzen zwischen verschiedenen Jugendlichen. "Den" oder "die" Jugendliche/n, "den" oder "die" Heranwachsende/n gebe es nicht. Gerade diese Variabilität werde regelmäßig psychowissenschaftlich und kriminologisch als wesentlich größer als in früheren Zeiten gesehen, wobei die sittlich-charakterliche Entwicklung häufig nicht Schritt halte mit ihrer körperlichen und teilweise intellektuell zu konstatierenden Akzeleration.

Spannungsverhältnis zwischen Alter und Entwicklungsstand

Das Spannungsverhältnis zwischen kalendarischem Alter und tatsächlichem Entwicklungsstand, zwischen körperlicher Entwicklung und der – für das Jugendstrafrecht maßgeblichen – emotionalen, moralischen und sozialen Reife sei oft groß, so der DAV weiter. Disharmonien der Entwicklung seien bei belasteten und delinquenten jungen Menschen häufig, was psychologisch zur Folge haben könne, dass der/die betreffende Jugendliche oder Heranwachsende in einzelnen Bereichen retardiert, in anderen Bereichen altersentsprechend entwickelt ist. Dieses Spannungsverhältnis gelte erst Recht bei Kindern, die selbst bei altersgerechter Entwicklung noch viel weniger Entwicklungsstufen durchlaufen haben als Jugendliche oder Heranwachsende.

Vorhandene Instrumente ausreichend

Vorfälle wie der aktuell medial beleuchtete bleiben nach Auffassung des Anwaltvereins nicht ohne Konsequenzen und staatliche Reaktionen. Sie könnten und dürften aber nicht zu einer Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze führen, so sein Appell. Wer das einerseits – teilweise "nur" für schwerwiegende Vorwürfe – fordere, andererseits aber die Flexibilität der Reaktionsmöglichkeiten im Jugendgerichtsgesetz hervorhebe, spiele ein falsches Spiel. "Welche genuin jugendstrafrechtlichen Instrumente sollen bei schwerwiegenden Vorwürfen zielführender sein als die bereits existierenden und durchaus einschneidenden der Jugendhilfe und notfalls des Familiengerichts?" Der DAV verweist hier auf die Maßnahmen der Erziehungshilfe bis hin zu Fremdunterbringungen in Pflegefamilien, Heimeinrichtungen, Kinder- und Jugendpsychiatrien. "Oder geht es nicht tatsächlich – verbrämt durch absolute Strafzwecktheorien und orientiert am Tatstrafrecht – um Freiheitsentzug für Kinder?" Dem ist laut DAV mit Nachdruck entgegenzutreten.

Redaktion beck-aktuell, Gitta Kharraz, 29. März 2023.