Niko Härting, der erste vom DAV ernannte Vielfaltsbeauftragte und selbst schwul, hat sich oft unwohl gefühlt, wenn sich Juristen nach einem Arbeits- oder Konferenztag gemeinsam ins Restaurant begaben. Unvermeidlich kämen irgendwann Fragen nach Ehefrau oder Kindern auf. Schnell das Thema übergehen? Schweigen oder gar eine Geschichte erfinden? Manchmal endete die Tagung sogar in einer Strip-Bar. "Irgendwann hat man keine Lust mehr, hinzugehen", berichtete er auf dem "Vielfaltstag", den der Anwaltverein am vergangenen Freitag erstmals veranstaltet hat. Angesichts der nicht geringen Zahl von "LGBT+"-Menschen wundert Härting sich, dass er von so wenig Kollegen wisse, dass sie lesbisch oder schwul seien. Die Folge: "Die Anwaltschaft gilt als konservativ – und das erschwert den Zugang zum Recht und zum beruflichen Nachwuchs." Körperliche Beeinträchtigungen seien ein weiterer Aspekt von Diversität.
Fun Fact: Im fast 30-köpfen Verbandsvorstand gab es nur eine einzige Stimme gegen Härtings neue Position des Vielfaltsbeauftragten. Markus Trude, Anwalt aus Köln, war gebeten worden, dieses Votum von ihm auf dem Berliner Kongress zu begründen. Sein Kernargument: Vielfalt betreffe nicht nur Geschlecht, sexuelle Orientierung oder einen etwaigen Migrationshintergrund, sondern vieles mehr. Was er anschaulich mit einem Schicksalsschlag illustrierte, der ihn selbst betraf. "Es geht um Menschen und darum, wie man auf Vielfalt reagiert." Trude (dessen Nachname ihm in seiner Heimatstadt schon als Kind viel Spott einbrachte) sieht eher die regionalen Anwaltvereine in der Pflicht, Diversität und Toleranz voranzubringen.
"Biodeutsch geprägt"
Berufsrechtsaktivist Markus Hartung sah denn auch das Bild der Anwaltschaft "bisher eher biodeutsch geprägt"; sie werde als "männerbündisch" angesehen. Aber eine andere Kultur könne man nicht verordnen. Gegen das unangenehme Gefühl: "Das Habituelle ist nicht mein Zuhause" helfe nur, dass Juristen dabei sind, "die sich anders benehmen und ohne Krawatte zum Anwaltsessen gehen". Auch er warnte: "Die Kanzleien finden sonst keinen Nachwuchs mehr, und die großen Wirtschaftskanzleien können sich angesichts der Diversitätsforderungen ihrer Mandanten vom Markt verabschieden." Besonders schlimm findet Hartung die Verhältnisse in den Anwaltskammern: "Bei deren Versammlungen läuft es einem kalt den Rücken runter."
Dass die Anwaltsgilde weniger bunt ist als die Gesellschaft, belegte der Anwaltsforscher Matthias Kilian von der Universität Köln mit Zahlen aus eigenen Studien. Einen Migrationshintergrund haben demnach immerhin 22% der Jura-Studierenden (was deutlich mehr seien als in den meisten anderen Studiengängen). Doch selbst bei Anwälten unter 40 Jahren liege dieser Anteil nur bei 10% und im gesamten Anwaltsstand bei bloßen 7%. Kilian wies darauf hin, dass dies nicht nur angehende oder aktive Juristen mit einer türkischen oder arabischen Vorgeschichte betreffe, sondern auch solche, die selbst oder deren Eltern aus Osteuropa stammten. Allerdings stiegen die Prozentsätze mittlerweile stark. Und beachtliche 80% von ihnen hätten angegeben, weder in der Ausbildung noch im Beruf benachteiligt worden zu sein.
"Doppelt problematisch" nannte es Kilian, dass Frauen dies nur zu 73% verneinten: "Hier treffen Geschlecht und migrantischer Hintergrund aufeinander." Weitere Besonderheiten unter Zugewanderten oder solchen mit entsprechenden Eltern: Sie haben im Durchschnitt schlechtere Examensnoten und sind häufiger in Kanzleien oder Unternehmen angestellt, statt Partner zu sein. Wenn sie als Kanzleiinhaber unternehmerisch tätig werden, dann besonders oft als Einzelanwalt. Außerdem sind sie seltener Fachanwalt oder haben promoviert und üben öfter nebenher einen weiteren Beruf aus als "Kartoffeldeutsche", wie Kilian dies ironisch formulierte. Bemerkenswert: Bei den Kriterien, nach denen sich Jungjuristen mit Zuwanderungshintergrund für ihre Bewerbung eine Wunschkanzlei aussuchen, rangiere deren Vielfalt sehr weit hinten.
"Locker nehmen"
Wie sehen Diskriminierungen konkret aus? Der Hamburger Anwalt Oliver Islam (übrigens einziges DAV-Vorstandsmitglied mit Migrationsgeschichte) hat sie "häufig anonym, häufig nicht anonym" erlebt. "Man wird anders gesehen und behandelt." Und man habe eine Sonderrolle: Am Lehrstuhl mit 18 wissenschaftlichen Mitarbeitern sei er der Einzige mit ausländischer Herkunft gewesen, obwohl es auf dem Campus viele gegeben habe. Im Staatsexamen hatte er keinerlei solchen Prüfer, und in der Kanzlei, in der er arbeite, sei er der Erste gewesen. Aber Islam findet das nicht nur schlecht: "Jeder kennt Dich, man wird wahrgenommen." Mit der oft als unangenehm empfundenen Frage nach seiner Herkunft geht er locker um: "Eigentlich kann man dann alles erzählen – mal sage ich, ich komme aus Rinteln. Oder vom Dorf. " Oder er nennt ein mehr oder weniger beliebiges Land: "Wichtig ist nur, dass ich Demokrat und Jurist bin."
Fenicia Aceto vom "Netzwerk Multikultureller Jurist*innen" findet, das sei dasselbe Problem wie die Frage an eine Frau, ob sie schwanger sei. Sie schildert ein Erlebnis, hinter dem sie gar keine böse Absicht vermutet: Auf einer Veranstaltung am OLG Köln, die sich besonders an Juristen mit Migrationshintergrund richtete, habe es vor allem Schweinefleisch, Kölsch und Cola gegeben. Da habe sie sich schon gefragt, ob sie zu solch einem Event wieder hingehen wolle. "Viele trauen sich auch nicht, das anzusprechen, weil sie Angst haben, dass dann die Karriere den Bach runtergehen könnte."
Dass die "Queer Community" in der Anwaltschaft noch ziemlich unsichtbar sei, bedauerte Christoph Podszun, Geschäftsführer der RAK Hamm: "Das widerspricht komplett den statistischen Zahlen." Aber die sexuelle Orientierung sei nun einmal nicht auf den ersten Blick sichtbar. Er erzähle inzwischen "frank und frei", dass er mit seinem männlichen Partner in Urlaub gewesen sei: "Damit habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht." Würde er sich verstecken, koste das doch nur Kraft, die auch bei der Arbeit fehle. Seine Kammer hisst regelmäßig demonstrativ die Regenbogenflagge.
So auch Verena Haisch, Vizepräsidentin des Deutschen Juristinnenbunds (djb): "Es wäre völlig abwegig, alles auszusparen, was den Anwalt betrifft." Schließlich erzählten ihr Mandanten ebenfalls viel Persönliches. "Das muss sichtbar sein, nur dann wird es irgendwann normal." Wie geht sie selbst mit dem Thema um? "Ich lüge nicht mehr, sondern sage: Ich habe eine Frau und drei Hunde." Stefanie Thevenin, Projekt- und Communitymanagerin bei ALICE, einem "LGBTIQ+ Karrierenetzwerk für Jurist:innen", berichtet von ihrer jährlichen Kampagne "Gesicht zeigen", die die Angst vor beruflichen Einbußen beim Bekenntnis zu sich selbst mindern soll. Haisch stimmte dem zu: "Es tut mir etwas weh, dass ich früher kein Vorbild hatte." Und beschreibt das Projekt "Welcoming out", das das Prinzip des Sich-Offenbarens quasi umdreht: Durch Aufkleber und Ähnliches im Büro oder an der Kleidung werde Mandanten und Mandantinnen signalisiert, dass sie sich hier öffnen können.
Arbeiterkinder haben es schwerer
Doch auch die soziale Herkunft autochthoner Deutscher kann Hindernisse und Hemmungen schaffen. Iris Sayram, Juristin und tätig im ARD-Hauptstadtbüro, hat über ihr Leben ein Buch geschrieben ("Für Euch"). Geboren wurde sie in einem Kölner Problemviertel – der Vater ein türkischer Gastarbeiter, dann arbeitslos und drogensüchtig; die Mutter zog sich bei ihrer Arbeit HIV zu und saß zeitweise im Gefängnis. Lange habe sie sich eine Zweitidentität zugelegt, um wie ein "Mädchen aus besserem Hause" auszusehen. Auf dem Gymnasium und an der Uni habe sie bei Fragen nach ihrer Familie vor Panik immer Schweißausbrüche bekommen, erzählte sie. "Früher fühlte ich mich wie jemand, der sich reingeschlichen hat." Irgendwann stellte sie fest: "Ich habe mich selber gar nicht mehr erkannt" und trennte sich von ihrem bisherigen Nachnamen "Marx". Jetzt finde sie es gut, wenn jemand "Armutserfahrung" hat und Kontakte zu Leuten, die nicht studiert haben. Gerade im Beruf sei es wertvoll, solche Erfahrungen in Diskussionen einbringen zu können.
Aus ganz ähnlichen Gründen hat die "Arbeiterkind gGmbH" für Jurastudierende das Projekt "Recht vielfältig" gestartet. Geschäftsführerin Katja Urbatsch will damit etwas gegen die Peinlichkeit tun, die Menschen aus nicht-akademischen oder gar prekären Verhältnissen gegenüber elitären Kommilitonen spüren, die stolz von sich sagen: "Ich bin in fünfter Generation Jurist." Sie kennt das (wenngleich aus dem Studium in einem anderen Fach) aus eigener Erfahrung: "Das kulturelle Kapital hat mir gefehlt." Womit sie Fremdwörter oder Tischmanieren meint. Aufgewachsen ist sie in der Familie stattdessen mit Gesprächsthemen wie dem Rheuma der Nachbarin. Was die Syndikusanwältin Sina Barenkau bestätigt: Als "Arbeiterkind aus der ärmsten Stadt Deutschlands, nämlich Gelsenkirchen", will sie jungen Leuten als "role model" zur Verfügung stehen. Für die mündliche Prüfung im Examen habe ihr noch das Geld für teure Kleidung gefehlt, und um den gewünschten Habitus zu lernen, habe sie sich vor einer Recruitment-Veranstaltung auf YouTube den passenden Umgang mit Messer und Gabel angesehen. "Meine Eltern hatten schließlich keine Golfkumpel, die ich hätte fragen können."
Die Sicht der Großkanzleien steuerte Klaus-Stefan Hohenstatt, Diversity-Beauftragter bei Freshfields, bei. Er beobachtet einen positiven Wandel hin zu mehr Buntheit. Ein Wermutstropfen dabei: "Der entscheidende Faktor für den Fortschritt ist, dass Juristen so knapp werden – nicht die Einsicht in die Notwendigkeit von Diversität." Denn viele Law Firms täten sich sehr schwer mit der Nachwuchsgewinnung. "Aber sie können sich nicht mehr erlauben, sich die Hälfte des Potenzials abzuschneiden." Zumal viele Mandanten dies einforderten. Seine Sozietät geht demnach inzwischen mit straffen Regeln vor: "Wir haben uns Targets gesetzt und schicken Praxisgruppenchefs zurück, wenn sie die nicht einhalten. Nominieren die nicht mindestens 40% Frauen, gibt es in dem Jahr eben weniger Partner." Allerdings müsse man die auch fördern und entwickeln – und dafür kämpfen, dass sie dableiben und nicht in Richtung Justiz abbiegen. "Viele Juristinnen haben einen Plan B, ob es im öffentlichen Dienst mit Familie nicht besser geht." Die selbstgesetzten Ziele beschränkten sich keineswegs aufs Geschlecht, beteuerte Hohenstatt: "5% unserer Partner weltweit sind LGBTQ+." Kandidaten für den Partnerstatus befrage man tatsächlich, ob sie sich bestimmten Gruppen zugehörig fühlen." Wegen des Datenschutzes in der EU könne man dies allerdings nicht bei Associates machen."