Zustellungsfiktion im Asylrecht europarechtskonform

Die in § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG enthaltene Zustellungsfiktion steht im Einklang mit Unionsrecht. Hiervon geht das Bundesverwaltungsgericht aus. Danach muss ein Asylbewerber Zustellversuche des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter der letzten bekannten Anschrift auch dann gegen sich gelten lassen, wenn diese dem BAMF nicht vom Ausländer selbst, sondern durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt worden ist.

Asylantragsteller teilte mehrfachen Wohnungswechsel nicht mit

Der Kläger stellte Ende 2013 einen Asylantrag. Bei Antragstellung wurde er darüber belehrt, dass er dem BAMF jeden Wohnungswechsel umgehend mitzuteilen hat. Mitteilungen, Ladungen und Entscheidungen würden immer an die letzte bekannte Anschrift übersandt und seien auch dann wirksam, wenn er dort nicht mehr wohnt. In der Folgezeit ist der Kläger mehrfach umgezogen, ohne dies jeweils mitzuteilen. Im Februar 2015 wurde dem BAMF von der Ausländerbehörde die seinerzeit aktuelle Anschrift mitgeteilt.

Ablehnung des Asylantrags erreichte Antragsteller nicht

Nachdem der Kläger unter dieser Anschrift 2016 weder zur persönlichen Anhörung geladen noch ihm Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben werden konnte, lehnte das BAMF den Asylantrag im August 2016 als offensichtlich unbegründet ab. Auch dieser Bescheid konnte dem Kläger unter der von der Ausländerbehörde mitgeteilten Anschrift tatsächlich nicht zugestellt werden, weil er dort seit April 2015 nicht mehr wohnte.

Klage gegen Ablehnung zu spät erhoben

Eine vom Kläger Anfang 2017 erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Dies wurde damit begründet, dass der Kläger die einwöchige Klagefrist, die mit der Zustellung beginne, versäumt habe. Das BVerwG hat die Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt. Der angegriffene Bescheid gelte nach § 10 Abs. 2 Satz 2 und 4 AsylG mit der Aufgabe zur Post im August 2016 als zugestellt. Die Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG setze allerdings voraus, dass die öffentliche Stelle eine zutreffende Anschrift mitgeteilt hat. Denn der Ausländer trage nicht das Risiko der Unrichtigkeit einer nicht von ihm stammenden und ihm regelmäßig nicht bekannten Mitteilung über seine Anschrift.

Zustellungsfiktion begünstigt Antragsteller letztlich

Dass die Zustellungsfiktion auch dann greift, wenn die letzte bekannte Anschrift nicht vom Kläger selbst, sondern von einer öffentlichen Stelle mitgeteilt worden ist, steht nach Ansicht des BVerwG im Einklang mit Art. 13 Abs. 2 Buchst. c Richtlinie 2013/32/EU (sogenannte Verfahrensrichtlinie). Auch in diesem Fall beruhe das Scheitern einer Zustellung darauf, dass der Ausländer keine hinreichenden Vorkehrungen für den Empfang behördlicher Sendungen an seiner tatsächlichen Wohnanschrift getroffen hat. Die Berücksichtigung einer von einer öffentlichen Stelle zutreffend mitgeteilten Anschriftenänderung begünstige ihn letztlich, indem er rechtlich so gestellt wird, als wenn er diesen Anschriftenwechsel selbst mitgeteilt hätte.

Kein Verstoß gegen materiell-rechtliches Refoulementverbot

Dies entbinde den Ausländer aber nicht von der fortbestehenden Verpflichtung, auch jeden weiteren Anschriftenwechsel mitzuteilen, und rechtfertige es, die erneute Verletzung dieser Obliegenheit mit einer Zustellungsfiktion zu verknüpfen. Die Verfahrensrichtlinie lasse dem nationalen Gesetzgeber hierfür Spielraum. Die damit verbundenen Konsequenzen der zurechenbaren Verletzung der für den Schutzsuchenden zumutbaren und ohne Weiteres zu erfüllenden Mitwirkungsobliegenheit, seine stete Erreichbarkeit zu gewährleisten, führten weder zu einer übermäßigen Erschwerung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf noch verstießen sie gegen das materiell-rechtliche Refoulementverbot.

BVerwG, Urteil vom 20.08.2020 - 1 C 28.19

Redaktion beck-aktuell, 20. August 2020.