Anforderungen an Ermessen bei Entscheidung über Verlust unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts

Die Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts des drittstaatsangehörigen Ehegatten einer Unionsbürgerin aus Gründen der öffentlichen Ordnung erfordert eine Ermessensentscheidung, bei der sich die Ausländerbehörde auch mit der substantiiert vorgetragenen Gefahr von Nachteilen im Herkunftsstaat unterhalb der Schwelle im Asylverfahren zu prüfender Nachteile (hier: erneute Bestrafung in seinem Herkunftsland) ermessensgerecht auseinandersetzt. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden.

Nach Straffälligkeit Verlust des Aufenthaltsrechts festgestellt

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste zuletzt im Jahr 2003 oder 2004 nach Deutschland ein und führte erfolglos ein Asylfolgeverfahren durch. 2013 heiratete er seine rumänische Lebensgefährtin, mit der er drei 2001, 2005 und 2013 geborene Kinder hat. Im Januar 2014 erhielt er eine Aufenthaltskarte als Familienangehöriger von Unionsbürgern. In den Jahren 2007 und 2017 wurde der Kläger wegen Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz jeweils zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Mit Verfügung vom Juli 2018 stellte der Senator für Inneres der Beklagten gemäß § 6 Abs. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU den Verlust des Rechts des in Strafhaft befindlichen Klägers auf Einreise und Aufenthalt für die Dauer von vier Jahren fest und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Im Oktober 2018 wurde die Ehefrau unter Beibehaltung ihrer rumänischen Staatsangehörigkeit eingebürgert.

BVerwG: Behörde hat Ermessen fehlerhaft ausgeübt

Mit seiner Klage machte der Kläger unter anderem geltend, ihm drohten in der Türkei eine erneute Strafverfolgung und Haftstrafe für die bereits in Deutschland abgeurteilten Delikte sowie in diesem Zusammenhang zu erwartende unmenschliche und erniedrigende Haftbedingungen. Die Klage wurde in den Vorinstanzen abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht argumentierte, die nach dem Vorbringen des Klägers drohende Beeinträchtigung von Belangen unterhalb der Schwelle eines Abschiebungsverbots führe hier nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Verlustfeststellung. Auf die Revision des Klägers hat das BVerwG die Verfügung der Beklagten wegen eines Ermessensfehlers aufgehoben. Zwar habe das OVG Gründe der öffentlichen Ordnung, die eine Verlustfeststellung nach § 12a FreizügG/EU in Verbindung mit § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU grundsätzlich rechtfertigen können, mit Blick auf die tatrichterlich festgestellte Gefahr der Wiederholung schwerer Betäubungsmittelstraftaten zu Recht bejaht. Der Kläger überschritte die erforderliche Gefahrenschwelle selbst dann, wenn angesichts des von ihm geäußerten materiellen Asylgesuchs § 53 Abs. 4 AufenthG Anwendung finden sollte, der die Ausweisung von Asylantragstellern an gesteigerte Voraussetzungen knüpft.

Zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nicht zu berücksichtigen

Nicht im Einklang mit § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU und § 40 des Bremischen Verwaltungsverfahrensgesetzes steht laut BVerwG aber die Annahme des OVG, die Ermessensausübung der Beklagten sei nicht zu beanstanden. Bei der Ermessensentscheidung über eine Verlustfeststellung seien neben den in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU beispielhaft aufgeführten Gesichtspunkten im Grundsatz auch Nachteile zu berücksichtigen, die den Ausländer im Herkunftsland erwarten und die sich insbesondere auf seine durch Art. 7 Grundrechtecharta/Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange auswirken. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot namentlich nach § 60 Abs. 2, 5 oder 7 AufenthG habe die Beklagte hier allerdings schon deshalb zutreffend nicht in ihre Ermessensentscheidung eingestellt, weil sie gemäß § 6 Satz 1 und § 42 Satz 1 AsylG an die hierzu ergangenen negativen Entscheidungen aus dem vorangegangenen Asylverfahren gebunden ist. Deren Änderung könne bei veränderter Sachlage nur gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge begehrt werden.

Aber drohender Eingriff in Recht auf Familienleben einzubeziehen

Von § 6 Satz 1 und § 42 Satz 1 AsylG nicht erfasste zielstaatsbezogene Nachteile hingegen seien in die Ermessensentscheidung einzustellen, unterstreicht das BVerwG. Das gelte jedenfalls für solche Nachteile, die geeignet sein können, sich auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht auf Familienleben im Sinne des Art. 7 Grundrechtecharta/Art. 8 Abs. 1 EMRK auszuwirken. Dies gelte etwa für die vom Kläger substantiiert geltend gemachte Gefahr einer (völker- und verfassungsrechtlich nicht unzulässigen) Doppelbestrafung für die in Deutschland zuletzt abgeurteilte Einfuhr von Heroin aus der Türkei. Denn eine etwaig drohende erneute langjährige Haftstrafe in der Türkei würde nicht nur die Aufrechterhaltung von Kontakten zu der in Deutschland lebenden Familie während der verfügten vierjährigen Dauer des von der Beklagten selbst als verhältnismäßig erachteten Einreiseverbots erschweren. Sie könnte vielmehr die Trennung von der Familie faktisch erheblich verlängern. Die Nichtberücksichtigung eines derartigen im Rahmen des Möglichen aufzuklärenden Nachteils durch die Beklagte in den (ergänzenden) Ermessenserwägungen erweise sich deshalb als ermessensfehlerhaft. Überlegungen des OVG könnten diesen Mangel nicht heilen. Damit seien auch die Folgeentscheidungen aufzuheben gewesen.

BVerwG, Urteil vom 16.12.2021 - 1 C 60.20

Redaktion beck-aktuell, 17. Dezember 2021.