Patientenakten sind tabu
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Behörden dürfen keinen Einblick in Patientenakten nehmen, um zu kontrollieren, ob Ärzte zu Unrecht Medikamente verschreiben, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht gestern am Nachmittag entschieden. Dies betrifft etwa das manchen Kindern verordnete Ritalin. Erlaubt sei dagegen eine Überprüfung der ausgestellten Rezepte. Die Leipziger Richter gaben allerdings zu bedenken, dass eine Erweiterung der Befugnisse durch den Gesetzgeber angebracht sein könnte.

Ritalin häufig verschrieben - und missbraucht

Zu den Medikamenten, die dem BtMG unterliegen, gehört auch das häufig in den Medien erwähnte Ritalin. Verordnet wird es gegen das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Allerdings wird es auch missbraucht, und zwar von Schülern und Studenten zur Leistungssteigerung sowie in der Drogenszene. Erst seit 2011 ist es auch offiziell für den Einsatz bei Erwachsenen und nicht nur bei Kindern und Jugendlichen zugelassen.

Kontrolle in Apotheke

Bei einer unangekündigten Kontrolle in einer Apotheke fiel Prüfern des Münchener Landratsamts ein Rezept für dieses Präparat auf, das ein Allgemeinmediziner auf dem dafür erforderlichen Spezialformular für seinen eigenen Sohn (damals 27 Jahre alt) ausgestellt hatte. Ein weiterer Besuch in dem Pharmaziegeschäft und ein ebenfalls unangemeldeter Gang in die Arztpraxis förderten eine (niedrige) zweistellige Zahl weiterer Verschreibungen dieses amphetaminartigen Wirkstoffs Methylphenidat an Erwachsene in ähnlicher Zahl zutage. Ungewöhnlich viele, wie die Überwachungsbehörde fand. Sie forderte daraufhin von dem Mediziner, der zudem Diplom-Psychologe ist, Unter­lagen darüber an, aufgrund welcher Untersuchungen und Diagnosen er 14 Patienten die Tabletten - und diverse weitere Betäubungsmittel wie etwa Fentanyl, das etwa 125-mal stärker wirkt als Morphin - verordnet hatte. Zudem drohte sie mit Zwangsgeldern.

VGH erlaubte Einsicht

Das VG München gab der Klage des Mediziners hiergegen teilweise recht. Zur Vorlage der Rezeptdurchschläge sei er verpflichtet, für die Anforderung von Patientendokumentationen fehle es hingegen an konkreten Tatsachen, die auf eine Missbrauchsgefahr hinwiesen. Anders der VGH München, der sich auch den Hinweis auf einen zweimaligen Anwaltswechsel und Anträge auf Fristverlängerungen nicht verkniff. Eine Einsichtnahme in die Patientenakten sei verhältnismäßig, denn nach §§ 22 I Nr. 1, 24 BtMG komme wegen der in dessen Anlage aufgeführten Arzneien einer wirksamen Überwachung eine besondere Bedeutung zu. Teilnehmer am Verkehr mit Suchtstoffen seien diesbezüglich weniger schutzbedürftig. Allein die "herausragende Bedeutung des Schutzguts der Volksgesundheit" rechtfertige eine - auch anlasslose - Kontrolle, zumal der unantastbare Kernbereich der Privatsphäre nicht betroffen sei.

BVerwG sieht keine Gesetzesgrundlage für Einsicht

Das BVerwG zeigte sich nun wieder strenger. "Die für die Überwachung des Betäubungsmittelverkehrs zuständigen Behörden sind nicht
befugt, zur Kontrolle des Verschreibens von Betäubungsmitteln Einsicht in ärztliche Patientenakten zu nehmen", befand es. Nach § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG dürften diese zwar Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr einsehen und hieraus Abschriften oder Ablichtungen anfertigen, soweit sie für die Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs von Bedeutung sein können. Doch die Annahme der bayerischen Vorinstanz, auch Patientenakten seien derartige Unterlagen, verstoße gegen Bundesrecht. Das ergebe eine Auslegung dieser Vorschrift.

Mahnung an Gesetzgeber

Allerdings richteten die Leipziger Richter indirekt einen Appell an die Politik. Gemäß § 13 Abs. 1 BtMG dürfen Ärzte Betäubungsmittel nur verschreiben, wenn ihre Anwendung im menschlichen Körper begründet sei. "Anhand der Angaben auf einem Betäubungsmittelrezept lässt sich die medizinische Begründung der Verschreibung nicht feststellen", schreiben sie in ihrer Presseerklärung zu ihrem Urteil. Das Ziel, eine effektive Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs zu gewährleisten, könne daher dafür sprechen, den Überwachungsbehörden auch die Befugnis einzuräumen, ärztliche Patientenunterlagen einzusehen. Dafür biete jedoch § 22 Abs. 1 Nr. 1 BtMG keine Grundlage: "Weder Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm noch die Gesetzessystematik geben Anknüpfungspunkte dafür, dass Patientenakten nach dem Willen des Gesetzgebers von dem Begriff ,Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr' umfasst sein sollen."

BVerwG, Urteil vom 10.03.2022 - 3 C 1.21

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 11. März 2022.