Keine Ver­län­ge­rung der Dub­lin-Über­stel­lungs­frist bei Kennt­nis des Auf­ent­halts­orts im Kir­chen­asyl

Kennt das Bun­des­amt für Mi­gra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) den Auf­ent­halts­ort eines Asyl­be­wer­bers, der sich im so­ge­nann­ten of­fe­nen Kir­chen­asyl be­fin­det, kann es die­sen nicht (mehr) als "flüch­tig" im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dub­lin-III-VO an­se­hen und des­we­gen die Frist zur Über­stel­lung in den zu­stän­di­gen Mit­glied­staat nicht auf 18 Mo­na­te ver­län­gern. Das hat das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt ent­schie­den.

BAMF will Ira­ne­rin nach Polen ab­schie­ben

Die Klä­ge­rin, eine ira­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge, reis­te ge­mein­sam mit ihrem Ehe­mann mit einem durch das pol­ni­sche Kon­su­lat in Te­he­ran er­teil­ten Schen­gen-Visum in das Bun­des­ge­biet ein. Die Ehe­leu­te be­an­trag­ten im Sep­tem­ber 2018 ihre An­er­ken­nung als Asyl­be­rech­tig­te. Nach­dem die pol­ni­schen Be­hör­den ihre Zu­stän­dig­keit für die Be­ar­bei­tung der Asyl­an­trä­ge an­er­kannt hat­ten, lehn­te das BAMF im Ok­to­ber 2018 den Asyl­an­trag der Klä­ge­rin als un­zu­läs­sig ab und ord­ne­te deren Ab­schie­bung nach Polen an.

Bun­des­amt ver­län­gert Über­stel­lungs­frist nach Kennt­nis vom Kir­chen­asyl

Hier­ge­gen erhob die Klä­ge­rin Klage. Ihren An­trag auf Ge­wäh­rung vor­läu­fi­gen Rechts­schut­zes lehn­te das Ver­wal­tungs­ge­richt An­fang Ja­nu­ar 2019 ab. Die Klä­ge­rin hielt sich ab dem 28.01.2019 im Kir­chen­asyl auf, ohne zu­nächst den Be­hör­den ihren neuen Auf­ent­halts­ort mit­ge­teilt zu haben. Nach­dem sie dem BAMF im April 2019 ihren Auf­ent­halt im Kir­chen­asyl of­fen­ge­legt hatte, ver­län­ger­te das Bun­des­amt An­fang Mai 2019 die Über­stel­lungs­frist auf 18 Mo­na­te, weil die Klä­ge­rin flüch­tig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Dub­lin III-VO sei.

Voll­zie­hung der Ab­schie­bungs­an­ord­nung wegen Co­ro­na aus­ge­setzt

Im März 2020 hat­ten die pol­ni­schen Be­hör­den dem Bun­des­amt mit­ge­teilt, dass vor­erst keine Über­stel­lun­gen von und nach Polen er­folg­ten. Das BAMF setz­te dar­auf­hin Mitte April 2020 die Voll­zie­hung der Ab­schie­bungs­an­ord­nung nach § 80 Abs. 4 VwGO in Ver­bin­dung mit Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-III-VO bis auf Wei­te­res aus, weil im Hin­blick auf die COVID-19-Pan­de­mie der­zeit Dub­lin-Über­stel­lun­gen nicht mög­lich seien.

VG er­klärt Ver­län­ge­rung der Dub­lin-Über­stel­lungs­frist für wirk­sam

Das VG Düs­sel­dorf hat die Klage der Frau ab­ge­wie­sen. Die Zu­stän­dig­keit für die Prü­fung des Asyl­ge­suchs sei nicht gemäß Art. 29 Abs. 1 Dub­lin-III-VO wegen Ab­laufs der Über­stel­lungs­frist auf die Be­klag­te über­ge­gan­gen, weil diese zu­nächst durch den An­trag auf vor­läu­fi­gen Rechts­schutz un­ter­bro­chen und dann wegen Flüch­tigs­eins der Klä­ge­rin wirk­sam auf 18 Mo­na­te bis zum 07.07.2020 ver­län­gert wor­den sei.

VG be­jaht "Flüch­tig­sein"

Die Klä­ge­rin sei im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dub­lin-III-VO flüch­tig ge­we­sen, da sie sich seit dem 28.01.2019 nicht mehr in der ihr zu­ge­wie­se­nen Un­ter­kunft auf­ge­hal­ten habe, ohne die zu­stän­di­gen Be­hör­den über ihren Auf­ent­halts­ort zu in­for­mie­ren. Die vor Ab­lauf der ver­län­ger­ten Über­stel­lungs­frist er­folg­te Aus­set­zung der Voll­zie­hung durch das Bun­des­amt habe die Frist er­neut un­ter­bro­chen, weil sie aus einem sach­lich ge­recht­fer­tig­ten Grund er­folgt sei, so das VG.

Sprung­re­vi­si­on er­folg­reich: Über­stel­lungs­frist nicht wirk­sam ver­län­gert

Das BVer­wG hat der (Sprung-)Re­vi­si­on der Klä­ge­rin statt­ge­ge­ben. Die Zu­stän­dig­keit für die Prü­fung des Asyl­ge­suchs sei durch den Ab­lauf der sechs­mo­na­ti­gen Über­stel­lungs­frist be­reits Mitte 2019 auf die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land über­ge­gan­gen, weil das BAMF diese Frist nicht wirk­sam ver­län­gert habe.

Be­kannt­ga­be des Kir­chen­asyls be­en­de­te "Flüch­tig­sein"

Denn die Klä­ge­rin sei im Zeit­punkt der Ver­län­ge­rungs­ent­schei­dung des BAMF nicht (mehr) flüch­tig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz Alt. 2 Dub­lin-III-VO ge­we­sen, so das BVer­wG, weil dem Amt zu die­sem Zeit­punkt ihr Auf­ent­halts­ort im Kir­chen­asyl be­kannt war. Eine Über­stel­lung der Klä­ge­rin sei dann aber recht­lich und tat­säch­lich (wie­der) mög­lich ge­we­sen. Daran än­de­re die (recht­lich nicht ver­bind­li­che) Ver­fah­rens­ab­spra­che zwi­schen dem Bun­des­amt und den Kir­chen zum Vor­ge­hen bei Per­so­nen, die sich im Kir­ch­asyl be­fin­den, nichts.

Prü­fung des "Flüch­tigs­eins" im Sinne des EU-Rechts nicht ver­an­lasst

Die Ab­spra­che be­ein­flusst laut BVer­wG ins­be­son­de­re nicht die Aus­le­gung des uni­ons­recht­li­chen Rechts­be­griffs "flüch­tig" im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dub­lin-III-VO. Der Sach­ver­halt gebe auch kei­nen An­lass zur ab­schlie­ßen­den Prü­fung, ob und unter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen in Aus­nah­me­fäl­len trotz be­kann­ter An­schrift ein (fort­be­stehen­des) "Flüch­tig­sein" im Sinne des Uni­ons­rechts an­ge­nom­men wer­den könne.

BVerwG, Urteil vom 26.01.2021 - 1 C 42.20

Redaktion beck-aktuell, 27. Januar 2021.

Mehr zum Thema