Noch nie eingereister visumpflichtiger Ausländer kann nicht ausgewiesen werden

Ein visumpflichtiger Drittstaatsangehöriger, der sich noch nie in Deutschland aufgehalten hat, kann nicht auf Grundlage des Aufenthaltsgesetzes ausgewiesen werden. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Der Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München, eine Ausweisung sei bereits möglich, wenn eine Einreise konkret beabsichtig sei, erteilte das BVerwG − nicht zuletzt aufgrund des Wortlauts der Bestimmungen − eine Absage.

Ausweisung noch nicht eingereisten Irakers

Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger, ist noch nie in das Bundesgebiet eingereist. Im Februar 2018 beantragte er bei der deutschen Botschaft in Ankara ein Visum zum Zweck des Familiennachzuges zu seiner in Deutschland lebenden deutschen Ehefrau. Im Rahmen der Identitätsprüfung wurde festgestellt, dass gegen ihn eine Interpol-Ausschreibung wegen des Verdachts der Beteiligung an terroristischen Straftaten im Zusammenhang mit dem Bau einer Sprengfalle im Irak vorlag. Der Visumantrag wurde abgelehnt; das dagegen eingeleitete Klageverfahren ruht. Im März 2019 wies die Beklagte den Kläger auf der Grundlage der §§ 53 ff. AufenthG aus dem Bundesgebiet aus und verhängte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen ihn.

VGH hält konkrete Einreiseabsicht für ausreichend

Das VG München hat diesen Bescheid aufgehoben. Auf die Berufung der Beklagten und der Landesanwaltschaft Bayern hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Obwohl sich der Kläger noch nie im Bundesgebiet aufgehalten habe, könne die Ausweisung auf die §§ 53 ff. AufenthG gestützt werden, weil er seine Einreise konkret beabsichtige und betreibe. Wegen der Verwirklichung besonders schwerwiegender Ausweisungsinteressen im Ausland sei es geboten, den Kläger durch die Ausweisung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot vom Bundesgebiet fernzuhalten. Das wegen der Verwirklichung einer schweren staatsgefährdenden Straftat (§ 89a StGB) bestehende Ausweisungsinteresse überwiege das ebenfalls schwerwiegende Bleibeinteresse des Klägers wegen der ehelichen Lebensgemeinschaft. Auch das zuletzt auf 13 Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot erweise sich als rechtmäßig.

BVerwG: Ausweisung muss Aufenthalt in Deutschland vorausgehen

Auf die Revision des Klägers hat das BVerwG die erstinstanzliche Entscheidung wiederhergestellt. Der angefochtene Bescheid entbehre einer gesetzlichen Grundlage. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG seien im Rahmen der Entscheidung über eine Ausweisung die Interessen an der Ausreise des Ausländers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet abzuwägen. Daraus werde deutlich, dass eine Ausweisung an einen Aufenthalt des Ausländers im Inland anknüpft. Dieses Ergebnis werde von gesetzessystematischen Erwägungen gestützt. So beginne die Frist für das mit einer Ausweisung zu verbindende Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Ausreise des Ausländers (§ 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Die Regelung setze damit einen der Ausweisung vorangehenden Aufenthalt in Deutschland voraus.

Berücksichtigung des Ausweisungsinteresses bei Visumserteilung möglich

Entsprechendes folge aus der Gesetzgebungsgeschichte sowie dem daraus abzuleitenden Sinn und Zweck der §§ 53 ff. AufenthG, die vor allem auf die Abwehr von Gefahren für die in § 53 Abs. 1 AufenthG genannten Rechtsgüter, aber auch auf die Berücksichtigung der Bleibeinteressen des Ausländers gerichtet sind. Besteht hingegen bei einem noch nie eingereisten visumpflichtigen Ausländer ein Ausweisungsinteresse, sei dem nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes in erster Linie im Rahmen der Entscheidung über die Erteilung eines Visums Rechnung zu tragen (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 4 AufenthG). Ob es in solchen Fällen darüber hinaus einer Möglichkeit bedarf, den Ausländer auszuweisen oder ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen, bleibe der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten.

BVerwG, Urteil vom 25.05.2023 - 1 C 6.22

Redaktion beck-aktuell, 25. Mai 2023.