Grenzen der Erhebung jugendhilferechtlicher Kostenbeiträge

Maßgeblich für die Berechnung des Kostenbeitrags, den junge Menschen bei vollstationären Leistungen der Jugendhilfe zu erbringen haben, ist das durchschnittliche Monatseinkommen des Vorjahres. Stammt das Einkommen aus einer Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen, die dem Zweck der Jugendhilfeleistung dient, hat der Träger laut Bundesverwaltungsgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob er von der Erhebung eines Kostenbeitrags absieht.

Schwerbehinderte Frau sollte 75% abtreten

Die 1993 geborene Klägerin ist mit einem höheren Grad als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Ab Dezember 2014 arbeitete sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Hierfür erhielt sie ein monatliches Nettoentgelt von durchschnittlich 88 Euro. Für die ihr gleichzeitig gewährte Hilfe für junge Volljährige in Form der vollstationären Unterbringung in einem Wohnheim zog der beklagte Landkreis sie für den Zeitraum von Januar 2015 bis Juli 2016 zu einem monatlichen Kostenbeitrag in Höhe von 75% ihres Einkommens heran. Diesen Beitrag setzte er im Widerspruchsbescheid auf durchschnittlich 67 Euro im Monat fest und verlangte von der Klägerin eine Nachzahlung in Höhe von 1.373,95 Euro. Die dagegen von der Klägerin erhobene Klage hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg.

Geplante Gesetzesänderungen irrelevant

Das BVerwG hat die Revision des beklagten Jugendhilfeträgers zurückgewiesen. Der streitige Kostenbeitragsbescheid sei rechtswidrig, weil der Beklagte bei der Berechnung des Einkommens der Klägerin die gesetzliche Regelung nicht angewendet habe, wonach das durchschnittliche Monatseinkommen maßgeblich ist, das die kostenbeitragspflichtige Person in dem Kalenderjahr erzielt hat, welches dem jeweiligen Kalenderjahr der Leistung vorangeht (§ 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Diese Bestimmung sei entgegen der Ansicht des Beklagten auch anzuwenden, wenn junge Menschen für vollstationäre Leistungen der Jugendhilfe zu Kostenbeiträgen in Höhe von75% ihres Einkommens (§ 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII) herangezogen werden. Der Umstand, dass das Abstellen auf den Vorjahreszeitraum teilweise als rechtspolitisch verfehlt angesehen wird und in der Gesetzgebung seit längerem Änderungen geplant sind, sei für die Auslegung des geltenden Rechts nicht erheblich.

Zu Unrecht kein Ermessen ausgeübt

Der Beklagte habe außerdem zu Unrecht von dem ihm gesetzlich (§ 94 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII) eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Danach könne ein geringerer Kostenbeitrag erhoben oder gänzlich von der Erhebung abgesehen werden, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, die dem Zweck der Jugendhilfeleistung dient. Diese Voraussetzung für die Ermessensausübung war laut BVerwG hier erfüllt. Zweck der Hilfe für junge Volljährige sei in erster Linie die Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung und die Förderung einer selbstständigen und eigenverantwortlichen Lebensführung. Diesem Zweck habe auch die Tätigkeit der Klägerin in einer Werkstatt für behinderte Menschen gedient.

BVerwG, Urteil vom 11.12.2020 - 5 C 9.19

Redaktion beck-aktuell, 14. Dezember 2020.