Flüchtig ist man nicht, wenn man nicht zu Hause ist

Ein Asylbewerber, der ins Ausland überstellt werden soll, muss sich nicht permanent in seiner Wohnung bereithalten. Das Bundesverwaltungsgericht hob eine Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf, die nach einem vergeblichen Abholungsversuch und einer Selbstgestellungsaufforderung den Mann als flüchtig betrachtet und die Überstellungsfrist verlängert hatte. Eine Flucht sei nur gegeben, wenn der Mann die Überstellung habe vereiteln wollen, was ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung nicht suggeriere.

Asylbewerber kam nicht zur Abschiebung

Ein afghanischer Staatsangehöriger kam über Dänemark nach Deutschland und beantragte Asyl. Da er aber bereits in Dänemark einen Asylantrag gestellt hatte, musste er dorthin zurückgeschoben werden, um das Verfahren zu durchlaufen. Für diese Überstellung hatte die Ausländerbehörde sechs Monate Zeit, nachdem die Dänen dem Wiederaufnahmeersuchen zugestimmt hatten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte den in Deutschland gestellten Asylantrag des Mannes als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Dänemark an. Der Afghane wehrte sich dagegen vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist scheiterte ein Überstellungsversuch, weil der Mann sich vorübergehend nicht in seiner Unterkunft aufhielt. Daraufhin bestellte ihn das BAMF am Tag des Fristablaufs um 7 Uhr 30 zur Abschiebung zum Polizeipräsidium - dort erschien er nicht, stattdessen war er drei Stunden später bei der Ausländerbehörde, um sich eine Grenzübertrittsbescheinigung ausstellen zu lassen. Das BAMF erklärte daraufhin den dänischen Behörden, dass der Asylbewerber flüchtig sei und sich die Überstellungsfrist um ein Jahr verlängere. Das Verwaltungsgericht Berlin hob die Entscheidungen der Behörde auf. Das BAMF scheiterte sowohl vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg als auch vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Asylverfahren muss in Deutschland durchgeführt werden

Mit Ablauf der Überstellungsfrist ist die Zuständigkeit für das Asylverfahren nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf Deutschland übergegangen. Die Voraussetzungen zur Fristverlängerung nach Satz 2 Variante 2 der Norm haben nach Ansicht des BVerwG nicht vorgelegen: Der Afghane war nicht flüchtig. Allein die Verletzung seiner Mitwirkungspflichten wie sein Nichterscheinen bei der Polizei oder seine Abwesenheit zum Zeitpunkt der Abholung rechtfertige nicht die Annahme, dass er die Überstellung habe vereiteln wollen. Seine Adresse sei der Behörde bekannt gewesen und er habe sich auch regulär dort aufgehalten. Außerdem sei er noch am Tag der vorgesehenen Abschiebung bei der Ausländerbehörde für die Grenzübertrittsbescheinigung vorstellig geworden. Eine Person sei nur flüchtig, wenn sie sich der Überstellung entziehen wolle. Dafür spricht laut den Leipziger Richtern das Ziel des Art. 29 der Dublin-Verordnung, nämlich möglichst schnell den Ort des Asylverfahrens bestimmen zu können. Daher sei die Ausnahme von der Sechsmonatsfrist eng auszulegen. Da nun Deutschland das Asylverfahren durchführen muss, ist auch die ablehnende Entscheidung seines Asylantrags aufzuheben. Das BAMF hat die Entscheidung erneut zu treffen.

BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 38/20

Redaktion beck-aktuell, 10. Dezember 2021.