"Extremfall" eines Gehörsverstoßes durch Erörterung mit nur einer Partei

Schließt ein Gericht die mündliche Verhandlung und erörtert die Sache dann mit einer Partei weiter, liegt ein erheblicher Verfahrensmangel vor. Laut Bundesverwaltungsgericht beruht das ergangene Urteil auf dem Fehler, auch wenn das Gericht zusichert, dass das Gespräch kurz gewesen sei und keinen Einfluss auf die Entscheidung haben werde. Im vorliegenden Fall hatten sich die Eltern eines seelisch erkrankten Sohns geweigert, in Anwesenheit des Behördenvertreters Fragen zum Kind zu beantworten.

Kostenübernahme für Web-Individualschule

Ein Schüler klagte auf Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für die Nutzung einer Online-Privatschule für das Schuljahr 2018/2019 in Höhe von 9.444 Euro. Der 2003 geborene junge Mann war seelisch behindert und extrem stressanfällig. Seit August 2016 nahm er daher am Online-Schulunterricht für monatlich 787 Euro von zuhause aus teil. In einem Gutachten wurden bei ihm eine "Soziale Phobie", eine "Autistische Störung" und "Verdacht auf einlaufende Psychose" festgestellt. Jedoch wollte das Jugendamt die Kosten des Privatunterrichts nicht übernehmen. Sowohl der Widerspruch als auch der Eilantrag des jungen Manns beim VG Chemnitz scheiterten. Das OVG Bautzen war hingegen auf seiner Seite. Allerdings hatten seine Eltern erst Angaben zu seinem Gesundheitszustand gemacht, nachdem die mündliche Verhandlung geschlossen worden war und der Senat die Sache "kurz" mit ihnen erörtert hatte - in Abwesenheit des Behördenvertreters. Die darauf gestützte Nichtzulassungsbeschwerde war erfolgreich.

BVerwG: Extremfall einer Versagung rechtlichen Gehörs

Aus Sicht der Leipziger Richter hat das OVG gegen § 138 Nr. 4 VwGO verstoßen. Danach ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war, außer wenn er der Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat. Das BVerwG monierte, dass das OVG die Verhandlung geschlossen habe, weil die Eltern keine Fragen zum Entwicklungs- und Gesundheitszustand ihres Sohnes in Anwesenheit des Beklagtenvertreters beantworten wollten. Anschließend habe es mit den Eltern alleine das Gespräch fortgeführt. Insoweit sei die Behörde zumindest nicht im gesamten Verfahren - wie es § 138 Nr. 4 VwGO erfordert - nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten gewesen. Es sei auch um den streitigen Sachverhalt gegangen. Darauf, ob das Gespräch kurz gewesen sei oder es eine Zusicherung des OVG gebe, dass das Besprochene "keinen Einfluss auf die Entscheidung" haben werde, komme es nicht an. Dem 5. Senat zufolge liegt darin ein Extremfall der Versagung rechtlichen Gehörs. Das BVerwG verwies die Sache daher an das OVG zurück.

BVerwG, Beschluss vom 14.07.2021 - 5 B 23.20

Redaktion beck-aktuell, 2. September 2021.