BVerwG: EuGH soll Fragen zum Nachzug volljährig gewordener Kinder zu anerkannten Flüchtlingen klären

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Europäischen Gerichtshof zur Klärung der Auslegung von Regelungen der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG) beim Kindernachzug zu anerkannten Flüchtlingen angerufen. Konkret geht es um den Nachzug volljährig gewordener Kinder.

VG stellt für Minderjährigkeit auf Zeitpunkt der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils ab

Die im Januar 1999 geborene Klägerin ist syrische Staatsangehörige und begehrt die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrem Vater. Dem Vater wurde auf seinen im April 2016 gestellten Asylantrag im Juli 2017 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Im September 2017 erhielt er eine für drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Im August 2017 beantragte die Klägerin beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul die Erteilung eines nationalen Visums zum Familiennachzug. Das Generalkonsulat lehnte die Erteilung im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Voraussetzungen für einen Kindernachzug lägen nicht vor, weil der Vater der Klägerin bis zum Eintritt von deren Volljährigkeit noch nicht über einen nachzugsfähigen Aufenthaltstitel verfügt habe. Das Verwaltungsgericht hat die beklagte Bundesrepublik zur Erteilung des begehrten Visums verpflichtet. Die Klägerin sei als minderjähriges Kind im Sinne des § 32 Abs. 1 AufenthG nachzugsberechtigt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit sei bei unionsrechtskonformer Auslegung der Zeitpunkt der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils.

EuGH soll maßgeblichen Zeitpunkt klären

Auf die Sprungrevision der Beklagten hat das BVerwG das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH mehrere Fragen betreffend die Auslegung der Familienzusammenführungsrichtlinie zur Vorabentscheidung vorgelegt. Die Voraussetzungen für einen Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG lägen nicht vor, weil die Klägerin bei Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an ihren Vater und Stellung ihres Antrags auf Familiennachzug nicht mehr minderjährig gewesen sei, was nach gefestigter Rechtsprechung erforderlich sei. Diese Regelung lasse eine Auslegung nicht zu, nach der für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt des Asylantrages des Elternteils abzustellen ist. Ein Anspruch in unmittelbarer Anwendung des Art. 4 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG komme nur in Betracht, wenn beim Kindernachzug zu Flüchtlingen hinsichtlich der Minderjährigkeit des nachzugswilligen Kindes der Zeitpunkt der Asylantragstellung des Flüchtlings maßgeblich ist. So habe es der EuGH in seinem Urteil vom 12.04.2018 (NVwZ 2018, 1463) für den umgekehrten Fall des Elternnachzuges zu einem minderjährigen unbegleiteten Flüchtling entschieden. Das BVerwG sieht Klärungsbedarf, ob diese zu anderen Normen der RL 2003/86/EG ergangene Rechtsprechung auf den Kindernachzug zu einem anerkannten Flüchtling übertragbar und es geboten ist, auf diesen frühen Zeitpunkt abzustellen. Zudem stelle sich die Frage, welche Anforderungen an das Bestehen von tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b RL 2003/86/EG zwischen dem inzwischen volljährig gewordenen Kind und dem Flüchtling zu stellen sind.

Vorabentscheidungsersuchen auch zu umgekehrtem Fall

Zu dem umgekehrten Fall des Elternnachzuges zu einem volljährig gewordenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschlüssen vom heutigen Tag (Az.: 1 C 9.19 und 1 C 10.19) ebenfalls Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet.

BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 - 1 C 16.19

Redaktion beck-aktuell, 23. April 2020.

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