Anwaltsverschulden bei Vertrauen auf Zustellungsangaben des Mandanten

Ein Rechtsanwalt darf sich bezüglich des Zeitpunkts der Zustellung eines Widerspruchsbescheids nicht auf die Angaben seines Klienten verlassen, sondern muss deren Richtigkeit eigenverantwortlich überprüfen. Der Umstand, dass von der Zustellung kein Umschlag mehr vorliegt, schließt laut Bundesverwaltungsgericht ein Verschulden nicht aus. Angesichts der vielen Zustellungsarten hätte dies den Juristen gerade veranlassen müssen, sich Gewissheit zu verschaffen.

Streit um das genaue Zustellungsdatum

Die Eigentümerin eines Grundstücks klagte gegen eine Kommune wegen der Festsetzung von Verschmutzungszuschlägen für stark verschmutztes Abwasser in der Zeit von 2013 bis 2015. Der vorangegangene Widerspruch war erfolglos geblieben. Der Bescheid enthielt dabei folgende Rechtsbehelfsbelehrung: "Gegen die Bescheide vom (…) können Sie innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Widerspruchsbescheides Klage (…) erheben." Er wurde als Einschreiben mit Rückschein an die Klägerin am 02.10.2017 in einem von ihr als Empfangsraum bezeichneten Bereich auf der Etage eines mehrstöckigen Gebäudes an die Mitarbeiterin einer anderen Firma übergeben. Am 06.11.2017 ging die Klage des Unternehmens beim VG Schleswig ein. Nachdem der dortige Richter im April 2019 auf deren Verfristung hinwies, beantragte sie die Wiedereinsetzung. Sie behauptete, die Assistentin der Geschäftsleitung, Frau K, habe am 02.10.2017 Urlaub gehabt. Den Bescheid habe sie erst am 04.10.2017 erhalten. Ein Umschlag mit Zustelldatum sei nicht in der Post gewesen. Andernfalls hätte sie diesen angeheftet. Daher habe sie den Bescheid mit Eingangsstempel vom 04.10.2017 versehen. Dieses Datum sei auch dem Anwalt der Klägerin mitgeteilt worden.

OLG erkennt Belehrungsmangel

Das VG Schleswig wies die Klage als unzulässig ab, da die zweiwöchige Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 VwGO für eine Wiedereinsetzung nicht eingehalten worden sei. Das OVG Schleswig gab der Klage statt, da der fehlende Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung des Rechtsbehelfs in elektronischer Form zu einem Belehrungsmangel führe mit der Folge, dass statt der Monats- die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO gelte und die Klage daher zulässig sei. Die Revision der Kommune beim BVerwG hatte Erfolg.

Anwalt muss Angaben eigenverantwortlich prüfen

Dem BVerwG zufolge war die am 06.11.2017 beim VG eingegangene Klage bereits verfristet. Ein Belehrungsmangel aufgrund des fehlenden Hinweises auf die Möglichkeit der elektronischen Einreichung liege nicht vor, wie bereits entschieden worden sei (vgl. BVerwG NVwZ 2021, 1061). Da der Widerspruchsbescheid der Klägerin am 02.10.2017 zugestellt worden sei, habe die Klagefrist am 02.11.2017 geendet. Der Umstand, dass das Dokument der Mitarbeiterin einer anderen Firma übergeben wurde, stehe der Wirksamkeit der Zustellung nicht entgegen. Die Versäumung der Klagefrist war laut BVerwG auch verschuldet, weil der Anwalt der Klägerin, dessen Verschulden sie sich nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse, es unterlassen habe, sich eigenverantwortlich Gewissheit über den Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheids zu verschaffen. Er habe sich nicht auf die Angaben seiner Klientin verlassen dürfen. Daran ändere auch der fehlende Umschlag des Einschreibens nichts.

BVerwG, Urteil vom 01.03.2023 - 9 C 25.21

Redaktion beck-aktuell, 4. April 2023.