Das BVerwG stellt klar: Ohne eine ordnungsgemäße Entscheidung der Medizinischen Kommission gemäß § 16 Abs. 6 ContStifG muss die Conterganstiftung einen Leistungsantrag erneut prüfen. Entscheidend sei, dass die Bewertung im vollständigen Gremium gemeinschaftlich erfolgt, so das Gericht (Urteil vom 09.07.2025 – 5 C 2.24).
Zwischen 1958 und 1962 kamen weltweit etwa 10.000 Kinder mit schweren Fehlbildungen ihrer Gliedmaßen und anderen Körperschäden zur Welt – häufig mit verkürzten Armen oder Beinen. Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft das thalidomidhaltige Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan des deutschen Pharmaunternehmens Grünenthal eingenommen.
Der 1961 geborene Mann beantragte wegen mehrerer konkret benannter Fehlbildungen Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStifG). Die Stiftung lehnte seinen Antrag ab, auch das anschließende Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Seine Klage auf Verpflichtung zur Leistungsgewährung wies das VG Köln ab. Auf die Berufung des Mannes änderte das OVG das erstinstanzliche Urteil teilweise und verpflichtete die Stiftung, den Antrag hinsichtlich einzelner Fehlbildungen neu zu bescheiden. Die Revision der Stiftung hatte überwiegend keinen Erfolg.
Kollegiale Entscheidung zwingend vorgeschrieben – Einzelabfragen reichen nicht aus
Nach § 16 Abs. 6 ContStifG setzt der Stiftungsvorstand die Leistungen auf Grundlage der Entscheidung der bei ihm einzurichtenden Medizinischen Kommission fest. Dieses Gremium muss nach § 16 Abs. 2 ContStifG aus mindestens fünf Mitgliedern bestehen, darunter eine Juristin oder ein Jurist und medizinische Sachverständige verschiedener Fachbereiche. Die Entscheidung, ob ein Schadensfall im Sinne des Gesetzes vorliegt und wie dieser zu bewerten ist, verlangt laut BVerwG eine kollegiale Entscheidungsfindung unter Beteiligung aller Mitglieder.
Diese Auslegung folge aus Wortlaut, Systematik und insbesondere dem Zweck der Norm, so das Gericht: Die Entscheidung des fachlich besetzten Gremiums solle Richtigkeit und Akzeptanz sichern und Streitigkeiten vermeiden. Dafür müssten alle Mitglieder die Argumente der anderen kennen, sich austauschen und gemeinsam entscheiden.
Im konkreten Fall hatte der Vorsitzende der Kommission lediglich die Stellungnahmen von acht der insgesamt 21 medizinischen Sachverständigen nacheinander eingeholt. Das OVG habe daher von einer eigenen Sachverhaltsaufklärung absehen dürfen, meint das BVerwG. Denn die nach § 16 Abs. 6 ContStifG zwingend erforderliche Entscheidung des Gremiums könne von einem Gericht nicht ersetzt werden. Die Sache wurde daher zur Neubescheidung durch die Stiftung zurückverwiesen.
BVerwG: Thalidomid muss wahrscheinlichste Ursache sein
Die Auslegung des § 12 Abs. 1 ContStifG durch das OVG überzeugte das BVerwG nur in Teilen. Die Vorinstanz hatte zu Recht erkannt, dass für die Zurechnung der Fehlbildungen zur Einnahme thalidomidhaltiger Präparate ein herabgesetzter Beweismaßstab gilt. Maßgeblich sei nicht der Vollbeweis, sondern eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, unter denen die Verbindung zwischen Fehlbildungen und Einnahme durch die Mutter plausibel gemacht werden könne, erklärte das BVerwG.
Allerdings genügt es nach Auffassung des BVerwG nicht, wenn die Thalidomideinnahme lediglich gleich wahrscheinlich ist wie eine andere mögliche Ursache. Erforderlich sei vielmehr, so die Richterinnen und Richter, dass die Contergan-Einnahme die wahrscheinlichste Ursache für die geltend gemachten Fehlbildungen ist. Diesen Maßstab hätten sowohl die Conterganstiftung als auch die Gerichte im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht anzuwenden.