BVerfG zur Wiederaufnahme: Nicht für mehr gefühlte Gerechtigkeit
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© Uli Deck / dpa

Es ist ein Grundsatzurteil: Das BVerfG erklärt den Grundsatz ne bis in idem zum abwägungsfesten Verbot und untersagt dem Gesetzgeber, Wiederaufnahmen zuungunsten des Angeklagten bei neuen Tatsachen oder Beweisen zuzulassen. Auch wenn zwei Senatsmitglieder das fundamental anders sehen.

Bundespräsident Walter Steinmeier tat sich schwer damit, es zu verabschieden, Wissenschaftlerinnen, Anwaltvereine und NGOs in ganz Deutschland bestritten seine Verfassungsmäßigkeit. Doch die Große Koalition hielt daran fest, erst Ende 2021, schon unter der Ampelregierung, trat das "Gesetz zur Wiederherstellung materieller Gerechtigkeit" in Kraft. Wenn neue Tatsachen auftauchen oder Beweismittel zum Beispiel durch fortgeschrittene Technik auswertbar werden, sollte eine Wiederaufnahme von Strafverfahren möglich werden, auch wenn der Beschuldigte freigesprochen worden war. So sollten "schlechterdings unerträgliche Ergebnisse" vermieden werden, hieß es damals in der Gesetzesbegründung. § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO ermöglichte es dann, ein Strafverfahren zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufzunehmen, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nun wegen Mordes oder bestimmter schwerer Völkerstraftaten verurteilt wird.

Es war eine "Lex Frederike", erlassen nach dem lebenslangen Kampf eines Vaters, der um Gerechtigkeit für sein getötetes Kind kämpfte. Ismet H. war 1983 aus Mangel an Beweisen rechtskräftig vom Vorwurf des Mordes an der damals 17-jährigen Frederike von Möhlmann freigesprochen worden, Hans von Möhlmann hörte nie auf, sich dafür einzusetzen, dass er erneut angeklagt werden könnte. 2012 wurden DNA-Spuren auswertbar, die ebenfalls auf Ismet H. als Täter hinwiesen.

Als Hans von Möhlmann Mitte 2022 starb, hatten bereits alle Instanzen bestätigt, dass die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren gegen Ismet H. auf der Grundlage des neuen § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO wieder aufnehmen durfte. Doch der Beschuldigte wehrte sich, bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Er berief sich auf den Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat mehrfach bestraft werden darf (Art. 103 Abs. 3 GG) und das Rückwirkungsverbot im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG). Am heutigen Dienstag war er vor dem BVerfG, das den Vollzug des Haftbefehls zunächst im einstweiligen Anordnungsverfahren unter Auflagen aussetzte, erfolgreich. Im Ergebnis einstimmig urteilte der Senat, dass die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen Ismet H. verfassungswidrig ist.

Rechtssicherheit vor materieller Gerechtigkeit: Absolutes und abwägungsfestes Verbot

Ihre Rechtsgrundlage, § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO, verstoße gegen das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG. Außerdem verletzte die Anwendung von § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits rechtskräftig waren, als die Norm in Kraft trat, das Rückwirkungsverbot (BVerfG, Urteil vom 31.10.2023 – 2 BvR 900/22). Das Urteil bot dem BVerfG erstmalig Gelegenheit, sich ausführlich zum ne-bis-in-idem-Grundsatz zu äußern. Das haben Deutschlands oberste Richterinnen und Richter getan, mit durchaus bemerkenswerten Aussagen – und bemerkenswert fundamental abweichenden Voten der Richterin Christine Langenfeld und des Richters Peter Müller.

Die Senatsmehrheit kommt zum Ergebnis, dass der Gesetzgeber jedenfalls nicht deshalb Wiederaufnahmemöglichkeiten für Strafverfahren zuungunsten freigesprochener Angeklagter schaffen dürfe, weil neue Tatsachen oder Beweismittel verfügbar sind.

Dieses Ergebnis basiert auf der Annahme des Senats, dass das grundrechtsgleiche Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG eine "absolute Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit" treffe. Das BVerfG erklärt Art. 103 Abs. 3 GG gar für "abwägungsfest": Das Verbot der Mehrfachbestrafung sei auch durch eine Abwägung von Rechtsgütern mit Verfassungsrang nicht relativierbar, auch nicht gegenüber dem Gesetzgeber, der das Wiederaufnahmerecht gestalte.

Die Begründung der Abwägungsfestigkeit: Art. 103 Abs. 3 GG gehe über den Schutz des Vertrauens in eine rechtskräftige Entscheidung hinaus und stehe, wie auch das absolute Rückwirkungsverbot im Strafrecht in Abs. 2 der Norm, eher den Freiheitsrechten nahe als den Rechten, die – wie zum Beispiel der Anspruch auf rechtliches Gehör – auf eine Gewährleistung von Rechtsschutz gerichtet sind.

Könnte der Gesetzgeber die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und staatlichem Strafanspruch anders treffen, könnte Art. 103 Abs. 3 seinen Zweck nicht erfüllen, so der Senat. Der bestehe eben nicht nur in der Rechtssicherheit für den Einzelnen, sondern auch darin, Rechtsfrieden für die Gesellschaft zu schaffen. Die moderne rechtsstaatliche Ordnung habe sich gegen das Ideal absoluter Wahrheit und für die nur relative Wahrheit entschieden, die aus einem rechtsförmigen Verfahren resultiert. "Auch das Strafrecht gebietet keine Erforschung der Wahrheit um jeden Preis", heißt es in der Mitteilung aus Karlsruhe vom Dienstag.

Wiederaufnahmen sind möglich, aber nicht für gefühlte Gerechtigkeit

Das Verbot des Art. 103 Abs. 3 GG legt der Senat, eben weil es abwägungsfest ist, eng aus. Eine Wiederaufnahme auch rechtskräftig abgeschlossener Verfahren sei verfassungsrechtlich möglich, wenn es darum gehe, „ein mit rechtsstaatlichen Gründen nicht zu vereinbarendes Urteil aufzuheben, ohne dass eine Änderung des materiellen Ergebnisses im Vordergrund steht", schreiben die Verfassungsrichterinnen und -richter – aber eben nicht wegen neuer Tatsachen und Beweismittel. Falsche Urkunden in der Hauptverhandlung, falsche Zeugenaussagen, korrupte Richterinnen oder auch ein späteres Geständnis des Angeklagten selbst, all die in § 362 Abs. 1 StPO aufgeführten, obgleich strukturell sehr unterschiedlichen anderen Gründe für eine Wiederaufnahme billigt das BVerfG.

Die Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel aber, um eine inhaltlich motivierte Korrektur zu erreichen, habe nichts damit zu tun, ob das vorangegangene Verfahren rechtsförmig und rechtsstaatlich abgelaufen sei. Der Senat argumentiert mit bekannten Strukturen: Ein nie endender Strafprozess würde auch für die Opfer und ihre Hinterbliebenen eine erhebliche seelische Belastung bedeuten, ihre Belange würden durch eine effektive Strafverfolgung geschützt, nicht durch ein bestimmtes Ergebnis dieser Strafverfolgung. Die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht falschen Entscheidung nehme der Rechtsstaat um der Rechtssicherheit willen in Kauf. 

Auch andere Gründe, von diesen ehernen rechtsstaatlichen Grundsätzen abzuweichen, verneint der Senat. Es gebe weder eine veränderte Verfassungswirklichkeit noch eine so gefestigte demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung in Deutschland, dass eine Abkehr oder Aufweichung verfassungsrechtlicher Grundsätze nicht mehr zu befürchten wäre, wenn eine Wiederaufnahme möglich würde, um einen Freispruch zu korrigieren, um ein als "gerechter" empfundenes Ergebnis zu erreichen.  

Das "Gesetz zur Wiederherstellung der materiellen Gerechtigkeit" aber habe § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO ausschließlich mit der Korrektur "schlechterdings unerträglicher Ergebnisse" begründet. Und sei deshalb mit Art. 103 Abs. 3 GG unvereinbar.

Keine peinliche Schlappe

Eine peinliche Schlappe ist das Karlsruher Urteil für die ehemalige Bundesregierung nicht. Auch die amtierende Ampelkoalition hatte nach ihrem Amtsantritt überlegt, das Gesetz rückgängig zu machen, es dann aber nicht angetastet. Justizminister Marco Buschmann (FDP), der nach dem Regierungswechsel ebenfalls für eine Überprüfung plädiert hatte, dürfte nicht unglücklich gewesen sein, stattdessen die Entscheidung aus Karlsruhe abwarten zu können. Die Grünen sehen sich ebenfalls in ihrer Skepsis gegenüber der Reform bestätigt. Er werte das Urteil als "klares Signal, dass die Politik sich bei der Gesetzgebung sehr eng an verfassungsrechtliche Vorgaben halten sollte", sagte der parlamentarische Geschäftsführer Till Steffen.

Doch die Mehrheit im Senat konnte auch zwei der eigenen Mitglieder nur im Ergebnis, nicht aber mit ihrer Begründung des Urteils überzeugen. Die Verfassungsrichterin Christine Langenfeld und der Verfassungsrichter Peter Müller teilen zwar die Auffassung ihrer Kolleginnen und Kollegen im Senat, dass § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO, wenn er auf bereits abgeschlossene Verfahren angewendet wird, als Fall der echten Rückwirkung gegen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoße. Auch die konkrete Ausgestaltung von § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO hat Langenfeld und Müller offenbar nicht überzeugt.

In Bezug auf den ne-bis-in-idem-Grundsatz aber und auf die Frage, ob Art. 103 Abs. 3 GG eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel ausschließt, enthalten die Sondervoten der Richterin und des Richters viele Argumente, die auch die damalige Bundesregierung und ihre Prozessvertreterinnen und -vertreter im Verfahren in Karlsruhe für die Neuregelung vorgebracht hatten.

Sondervoten sehen "schwer auflösbare Wertungswidersprüche"

Langenfeld und Müller sehen in Art. 103 Abs. 3 GG kein absolutes, abwägungsfestes Verbot, sondern ein vorbehaltslos gewährleistetes grundrechtsgleiches Recht, das verfassungsimmanenten Schranken unterliege. Sie können keinen wertungsmäßigen Unterschied zwischen den neuen Tatsachen oder Beweismitteln des nun für nichtig erklärten § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO und den falschen Urkunden oder Zeugenaussagen der Nrn. 1 und 2 der Norm erkennen: Sie alle ermöglichten eine Korrektur einer defizitären Beweisaufnahme, die jeweils erst im Nachhinein offenbar geworden sei.

Die beiden schreiben von "schwer auflösbaren Wertungswidersprüchen", wenn ein freigesprochener Wirtschaftskrimineller, der von einer gefälschten Urkunde profitiert hatte, die er noch nicht einmal selbst gefälscht haben muss, sich einer erneuten Anklage stellen müsse, jemand, der in einem Verfahren wegen Mordes später durch ein molekulargenetisches Gutachten der Täterschaft überführt wird, aber nicht.

Die Wertung, dass Taten wie Mord oder Völkermord wegen ihrer Schwere unverjährbar sind, könne man auch für die Frage der Wiederaufnahme berücksichtigen, die Gefahr eines Dammbruchs sehen Langenfeld und Müller bei den wenigen schwersten Straftaten, bei denen eine Wiederaufnahme möglich werden sollte, ebenfalls nicht. Und der Rechtsfrieden könne, so die Verfassungsrichter, auch Schaden erleiden, wenn ein Betroffener bei schwersten Straftaten straflos bleibt. 

"Schmerzhaft, aber rechtsstaatlich"

Durchsetzen konnten die beiden sich damit nicht. Der Zweite Senat hat § 362 Abs. 1 Nr. 5 StPO für nichtig erklärt und das Wiederaufnahmeverfahren von Ismet H. an das Landgericht Verden zurückverwiesen.

Es ist nur eine Formalie, das Verfahren muss mangels Rechtsgrundlage beendet werden. Dem Senat sei bewusst, "dass dieses Ergebnis für die Angehörigen der 1981 getöteten Schülerin und insbesondere für die Nebenklägerin des Ausgangsverfahrens schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist", sagte die Senatsvorsitzende Doris König bei der Urteilsverkündung am Dienstagvormittag. In dem Verfahren sei es aber nicht um den konkreten Fall gegangen, sondern um den Umgang mit dem grundlegenden rechtsstaatlichen Grundsatz, dass niemand zweimal wegen derselben Sache angeklagt werden kann. Ismet H. aber bleibt ein freigesprochener Mann.

In der Mitteilung aus Karlsruhe vom Dienstag heißt es unter Bezugnahme auf die Begründung des "Gesetzes zur Wiederherstellung materieller Gerechtigkeit":  Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen und dessen Fortbestand "trotz abnehmender Zweifel an der Schuld des Freigesprochenen sind unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht ‚unerträglich‘, sondern vielmehr Folgen einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spielt". 

BVerfG, Urteil vom 31.10.2023 - 2 BvR 900/22

Redaktion beck-aktuell, Pia Lorenz, 31. Oktober 2023 (ergänzt durch Material der dpa).