Beschwerdeführerin begehrte Entfernung eines Links auf Interview
Am 21.10.2010 strahlte der Norddeutsche Rundfunk (NDR) einen Beitrag des Fernsehmagazins "Panorama" mit dem Titel "Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber" aus. Gegen Ende dieses Beitrags, für den die Beschwerdeführerin zuvor ein Interview gegeben hatte, wurde der Fall eines gekündigten ehemaligen Mitarbeiters des von ihr als Geschäftsführerin geleiteten Unternehmens dargestellt. In Anknüpfung an die geplante Gründung eines Betriebsrats wurde ihr in dem Beitrag ein unfairer Umgang mit dem Mitarbeiter vorgeworfen. Der NDR stellte eine Datei mit einem Transkript dieses Beitrags unter dem Titel "Die fiesen Tricks der Arbeitgeber" auf seiner Internetseite ein. Bei Eingabe des Namens der Beschwerdeführerin in die Suchmaske des Suchmaschinenbetreibers Google wurde als eines der ersten Suchergebnisse die Verlinkung auf diese Datei angezeigt. Nachdem dieser es abgelehnt hatte, die Nachweise dieser Seite zu unterlassen, erhob die Beschwerdeführerin Klage, die vom Oberlandesgericht abgewiesen wurde. Die Beschwerdeführerin könne weder aus § 35 Abs. 2 Satz 2 BDSG a. F. noch aus §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG die Entfernung des Links beanspruchen.
Beschwerdeführerin rügt Grundrechtsverletzung
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Bereits die Überschrift des Suchergebnisses sei verfälschend, da sie niemals "fiese Tricks" angewandt habe. Das Suchergebnis rufe eine negative Vorstellung über sie als Person hervor, die geeignet sei, sie als Privatperson herabzuwürdigen. Überdies liege der Bericht zeitlich so weit zurück, dass auch in Folge des Zeitablaufs kein berechtigtes öffentliches Interesse mehr an ihm bestehe.
BVerfG: Innerstaatliche Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichten Fachrechts an Unionsgrundrechten zu messen
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. Es geht zunächst auf den verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab ein. Der von der Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren verfolgte Anspruch auf Auslistung richte sich – sowohl für die damals geltende Datenschutzrichtlinie als auch für die heutige Datenschutz-Grundverordnung – nach Rechtsvorschriften, die unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht seien und damit in allen Staaten der Europäischen Union gleichermaßen gölten. Die Frage, welche personenbezogenen Daten eine Suchmaschine auf Suchabfragen nachweisen dürfe, falle auch nicht in den Bereich des sogenannten Medienprivilegs, für das den Mitgliedstaaten ein Ausgestaltungsspielraum zustehe. Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen seien grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich. Das Unionsrecht habe hier gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes Anwendungsvorrang. Für die Frage, ob vollständig vereinheitlichte Regelungen gegen Grundrechte verstießen, entspreche das der ständigen Rechtsprechung des BVerfG. Nichts anderes gelte für die Frage, ob das vollvereinheitlichte Fachrecht grundrechtskonform angewendet wird.
Unionsgrundrechte gewährleisten derzeit gleich wirksamen Schutz
Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts stehe nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG unter dem Vorbehalt, dass der Grundrechtsschutz durch die Unionsgrundrechte hinreichend wirksam ist. Erforderlich sei deshalb, dass deren Schutz dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist. Nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts – zumal unter Geltung der Charta – sei dies der Fall.
BVerfG prüft erstmals Anwendung von Unionsrecht am Maßstab der Unionsgrundrechte
Das BVerfG betont, dass es jetzt erstmals entschieden habe, dass es die Anwendung des Unionsrechts durch deutsche Stellen selbst am Maßstab der Unionsgrundrechte prüft, soweit diese die deutschen Grundrechte verdrängten. In seiner bisherigen Rechtsprechung habe es eine Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte nicht ausdrücklich in Erwägung gezogen. Soweit es die grundgesetzlichen Grundrechte nicht angewendet habe, habe es vielmehr auf eine Grundrechtsprüfung ganz verzichtet und die Grundrechtskontrolle den Fachgerichten in Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof überlassen. Diese Rechtsprechung habe sich auf Fallkonstellationen bezogen, in denen, mittelbar oder unmittelbar, die Gültigkeit von Unionsrecht – also nicht dessen Anwendung – in Frage gestanden habe.
Wahrnehmung der Integrationsverantwortung
Gehe es hingegen wie hier um die Frage, ob deutsche Gerichte oder Behörden bei der Anwendung vollvereinheitlichten Unionsrechts den hierbei zu beachtenden Anforderungen der Unionsgrundrechte im Einzelfall genügt haben, könne sich das BVerfG nicht aus der Grundrechtsprüfung zurückziehen. Vielmehr gehöre es dann zu seinen Aufgaben, Grundrechtsschutz am Maßstab der Unionsgrundrechte zu gewährleisten. Die in Art. 23 Abs. 1 GG vorgesehene Öffnung des Grundgesetzes für das Unionsrecht meine nicht einen Rückzug der deutschen Staatsgewalt aus der Verantwortung für die der Union übertragenen Materien. Vielmehr sehe sie eine Mitwirkung der deutschen Staatsorgane und damit auch des BVerfG an deren Entfaltung vor. Durch die Einbeziehung der Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab nehme das BVerfG im Verfahren der Verfassungsbeschwerde daher seine Integrationsverantwortung wahr.
Prüfung durch BVerfG zur Vermeidung einer Schutzlücke erforderlich
Laut BVerfG ist hierfür vor allem maßgeblich, dass nach dem heutigen Stand des Unionsrechts anderenfalls eine Schutzlücke hinsichtlich der fachgerichtlichen Anwendung der Unionsgrundrechte entstünde. Denn eine Möglichkeit Einzelner, die Verletzung von Unionsgrundrechten durch die mitgliedstaatlichen Fachgerichte unmittelbar vor dem EuGH geltend zu machen, bestehe nicht. Das Unionsrecht kenne anders als das deutsche Recht keine Verfassungsbeschwerde. Diese Schutzlücke werde auch nicht durch die schon bisher ausgeübte Kontrolle des BVerfG über die Vorlageverpflichtung der Fachgerichte an den EuGH hinreichend geschlossen.
Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH
Weiter führt das BVerfG aus, dass es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH ausübe, soweit es die Grundrechte der Grundrechtecharta als Prüfungsmaßstab anlege. Denn die Zuständigkeit für die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts und damit auch der Grundrechte der Charta liege bei diesem. Soweit er deren Auslegung nicht bereits geklärt habe oder die anzuwendenden Auslegungsgrundsätze nicht aus sich heraus offenkundig seien – etwa auf der Grundlage einer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte –, werde das BVerfG ihm Fragen gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegen. Ob die Fachgerichte, soweit sie im fachgerichtlichen Instanzenzug letztinstanzlich entschieden, insoweit ebenfalls vorlagepflichtig blieben, habe keiner Entscheidung bedurft.
Verfassungsbeschwerde zulässig – Berufung auf deutsche Grundrechte statt Unionsgrundrechte unschädlich
In der Sache hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde zwar für zulässig erachtet. Denn die Beschwerdeführerin sei beschwerdebefugt, da sie sich auf die Unionsgrundrechte berufen könne. Indem sie sich auf eine Verletzung ihres Rechts auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit stütze, rüge sie der Sache nach eine Verletzung ihrer Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten nach Art. 7 und Art. 8 EU-Grundrechtecharta. Dass sie insoweit die Grundrechte des Grundgesetzes und nicht die Grundrechte der Charta nenne, sei unschädlich. Werde nur die falsche Norm benannt, aber in der Sache substantiiert vorgetragen, werde hierdurch die Verfassungsbeschwerde nicht unzulässig.
Recht auf Schutz personenbezogener Daten contra unternehmerische Freiheit
Die Verfassungsbeschwerde sei aber unbegründet, so das BVerfG weiter. Wie die Grundrechte des Grundgesetzes gewährleisteten auch die Grundrechte der Charta nicht nur Schutz im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten. Auf Seiten der Beschwerdeführerin seien in die Abwägung die Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 EU-Grundrechtecharta und auf Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 EU-Grundrechtecharta einzustellen. Eine Entsprechung hätten diese Garantien in Art. 8 EMRK. Auf Seiten des beklagten Suchmaschinenbetreibers sei sein Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 EU-Grundrechtecharta einzustellen, während er sich für die Verbreitung von Suchnachweisen nicht auf die Meinungsfreiheit aus Art. 11 EU-Grundrechtecharta berufen könne.
Meinungsfreiheit des NDR in Abwägung einzustellen
Einzustellen seien jedoch die von einem solchen Rechtsstreit unmittelbar betroffenen Grundrechte Dritter und damit vorliegend – neben den Informationsinteressen der Nutzer – die Meinungsfreiheit des NDR. Da es darum gehe, ob dem Suchmaschinenbetreiber verboten werden kann, die von einem Dritten, hier dem NDR, bereitgestellten Beiträge zu verbreiten, könne in einem solchen Verbot zugleich eine eigenständige Einschränkung der Meinungsfreiheit des Dritten liegen. Denn diesem werde dadurch ein bereitstehender Dienstleister genommen und so in Teilen zugleich ein wichtiges Medium für die Verbreitung seiner Berichte. Dies sei nicht ein bloßer Reflex einer Anordnung gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber. Vielmehr knüpfe die Entscheidung unmittelbar an die Äußerung und an den Gebrauch der Meinungsfreiheit an, da es gezielt darum gehe, die Verbreitung des Beitrags wegen seines Inhalts zu beschränken.
Tätigkeit des Suchmaschinenbetreibers Grundlage der Abwägung
Grundlage der Abwägung sei die Tätigkeit des Suchmaschinenbetreibers, die hinsichtlich der damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen eigenständig zu beurteilen sei. Die Frage, ob er rechtmäßig gehandelt habe, sei nicht identisch mit der Frage, ob die Veröffentlichung des Beitrags durch den Dritten rechtmäßig gewesen sei, auch wenn es insoweit Wechselwirkungen geben könne. Damit sei ein Vorgehen gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber auch nicht subsidiär zu einem solchen gegenüber dem Dritten als Inhalteanbieter.
Berücksichtigung der Meinungsfreiheit schließt Vermutung eines Vorrangs des Persönlichkeitsrechtsschutzes aus
Laut BVerfG ist zwar im Rahmen der Abwägung das Gewicht allein der wirtschaftlichen Interessen des Suchmaschinenbetreibers grundsätzlich nicht hinreichend schwer, um den Schutzanspruch Betroffener zu beschränken. Allerdings könnten das Informationsinteresse der Öffentlichkeit sowie vor allem einzubeziehende Grundrechte Dritter größeres Gewicht haben. Vorliegend sei die Meinungsfreiheit des durch die Entscheidung belasteten, insoweit grundrechtsberechtigten NDR als unmittelbar mitbetroffenes Grundrecht in die Abwägung einzubeziehen. Daher gelte hier – anders als in einigen Entscheidungen des EuGH, die insoweit andere Konstellationen betrafen – keine Vermutung eines Vorrangs des Schutzes des Persönlichkeitsrechts. Vielmehr seien die sich gegenüberstehenden Grundrechte gleichberechtigt miteinander abzuwägen. Denn ebenso wenig wie Einzelne gegenüber den Medien einseitig darüber bestimmen könnten, welche Informationen im Rahmen der öffentlichen Kommunikation über sie verbreitet werden, hätten sie eine solche Bestimmungsmacht gegenüber den Suchmaschinenbetreibern.
Zeitliche Umstände und leichte Zugänglichkeit der Informationen durch Suchmaschine zu berücksichtigen
Weiter führt das BVerfG aus, dass es bei der Abwägung für die Gewichtung der Grundrechtseinschränkung der Betroffenen maßgeblich darauf ankomme, wieweit sie durch die Verbreitung des streitbefangenen Beitrags, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit namensbezogener Suchabfragen, in ihrer Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigt würden. Hierfür reiche nicht eine Würdigung der Berichterstattung in ihrem ursprünglichen Kontext. Vielmehr sei auch die leichte und fortdauernde Zugänglichkeit der Informationen durch die Suchmaschine zu berücksichtigen. Dabei sei insbesondere auch der Bedeutung der Zeit zwischen der ursprünglichen Veröffentlichung und deren späterem Nachweis Rechnung zu tragen, wie es nach der aktuellen Rechtslage auch in Art. 17 DS-GVO nach dem Leitgedanken eines "Rechts auf Vergessenwerden" normiert sei.
Abwägung des OLG nicht zu beanstanden
Dem BVerfG zufolge ist die angegriffene Entscheidung nach diesen Maßstäben im Ergebnis nicht zu beanstanden. Das OLG stelle sowohl den Schutz des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin als auch die unternehmerische Freiheit des Suchmaschinenbetreibers in die Abwägung ein, letztere zu Recht in Verbindung mit der Meinungsfreiheit des NDR sowie dem Zugangsinteresse der Internetnutzer. Die Abwägung des OLG halte sich im fachgerichtlichen Wertungsrahmen.
Zuordnung des Beitragsgegenstands zur Sozialspähre nicht zu beanstanden
Zu kurz greife es allerdings, wenn das OLG dabei die Beschwerdeführerin nur als in ihrer Sozialsphäre betroffen ansieht, so das BVerfG. Die Auffindbarkeit und Zusammenführung von Informationen mittels namensbezogener Suchabfragen führe heute dazu, dass für deren Auswirkungen zwischen Privat- und Sozialsphäre kaum mehr zu unterscheiden sei. Als Kriterium für die Gewichtung des Gegenstands des Beitrags, nicht der Auswirkungen auf die Betroffenen, behält laut BVerfG diese Unterscheidung aber ihre Aussagekraft. Tragfähig lege das OLG diesbezüglich dar, dass sich der Beitrag auf ein in die Gesellschaft hineinwirkendes berufliches Verhalten der Beschwerdeführerin, nicht aber allein auf ihr Privatleben bezieht und in Hinblick hierauf durch ein noch fortdauerndes, wenn auch mit der Zeit abnehmendes öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt sei. Diesbezüglich müsse die Beschwerdeführerin belastende Wirkungen -– auch in ihrem privaten Umfeld – weitergehend hinnehmen als gegenüber Beiträgen über ihr privates Verhalten.
Beschwerdeführerin hatte Interview zugestimmt
Ergänzend habe das OLG auch darauf abstellen können, dass die Beschwerdeführerin zu dem Interview, das Gegenstand des streitigen Beitrags war, ihre Zustimmung gegeben hatte. Zu Recht beurteile die angegriffene Entscheidung den Bericht und den hierauf verweisenden Link auch nicht als Schmähung, da es nicht ohne Sachbezug allein um die Verunglimpfung der Person geht.
Würdigung des Zeitfaktors nicht zu beanstanden
Das OLG habe auch den Zeitfaktor in seine Abwägung eingestellt und geprüft, ob die Weiterverbreitung des Beitrags unter Namensnennung angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit, die sowohl das Gewicht des öffentlichen Interesses als auch das der Grundrechtsbeeinträchtigung modifizieren könne, noch gerechtfertigt ist, so das BVerfG weiter. Letztlich sehe es einen Anspruch auf Auslistung im vorliegenden Fall mit verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Begründung als jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gegeben an. Dies trage den Garantien der Grundrechtecharta hinreichend Rechnung und lasse eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von Bedeutung und Tragweite der berührten Unionsgrundrechte nicht erkennen.