BVerfG zum "Recht auf Ver­ges­sen­wer­den": BGH muss über iden­ti­fi­zie­ren­de Mord-Pres­se­be­rich­te in On­line-Ar­chiv neu ent­schei­den

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat der Ver­fas­sungs­be­schwer­de eines Man­nes statt­ge­ge­ben, der vor bald 40 Jah­ren wegen Mor­des ver­ur­teilt wor­den war und sich gegen alte, über Such­ma­schi­nen auf­find­ba­re, iden­ti­fi­zie­ren­de Pres­se­be­rich­te in einem On­line­ar­chiv wand­te. Das BVerfG be­tont die Be­deu­tung des "Rechts auf Ver­ges­sen­wer­den" im In­ter­net­zeit­al­ter. Die Rechts­ord­nung müsse davor schüt­zen, dass sich eine Per­son frü­he­re Hand­lun­gen un­be­grenzt vor der Öf­fent­lich­keit vor­hal­ten las­sen muss. Der Bun­des­ge­richts­hof muss nun neu in der Sache ent­schei­den. Dabei müsse er im Rah­men des Grund­rechts­aus­gleichs be­rück­sich­ti­gen, wie­weit dem Ver­lag Schutz­vor­keh­run­gen gegen die Ver­brei­tung der alten Be­rich­te im In­ter­net mög­lich seien, so das BVerfG (Be­schluss vom 06.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13).

Iden­ti­fi­zie­ren­de Ar­ti­kel über Mord vor 40 Jah­ren in Spie­gel-On­line-Ar­chiv ab­ruf­bar

Der Be­schwer­de­füh­rer wurde im Jahr 1982 rechts­kräf­tig wegen Mor­des zu einer le­bens­lan­gen Frei­heits­stra­fe ver­ur­teilt, weil er 1981 an Bord einer Yacht auf hoher See zwei Men­schen er­schos­sen hatte. Über den Fall ver­öf­fent­lich­te "Der Spie­gel" 1982 und 1983 unter Aus­ein­an­der­set­zung mit der Per­son des na­ment­lich ge­nann­ten Be­schwer­de­füh­rers drei Ar­ti­kel in sei­ner ge­druck­ten Aus­ga­be. Seit 1999 stellt die be­klag­te Spie­gel On­line GmbH die Be­rich­te in einem On­line­ar­chiv kos­ten­los und ohne Zu­gangs­bar­rie­ren zum Abruf be­reit. Gibt man den Namen des Be­schwer­de­füh­rers in einem gän­gi­gen In­ter­net­such­por­tal ein, wer­den die Ar­ti­kel unter den ers­ten Tref­fern an­ge­zeigt.

BGH wies Un­ter­las­sungs­kla­ge ab

Nach­dem der 2002 aus der Haft ent­las­se­ne Be­schwer­de­füh­rer erst­mals im Jahr 2009 Kennt­nis von der On­line-Ver­öf­fent­li­chung er­langt hatte, erhob er nach er­folg­lo­ser Ab­mah­nung Un­ter­las­sungs­kla­ge mit dem An­trag, es der Be­klag­ten zu un­ter­sa­gen, über die Straf­tat unter Nen­nung sei­nes Fa­mi­li­en­na­mens zu be­rich­ten. Der Bun­des­ge­richts­hof wies die Klage ab. Im Streit­fall habe das In­ter­es­se des Be­schwer­de­füh­rers am Schutz sei­ner Per­sön­lich­keit hin­ter dem von der Be­klag­ten ver­folg­ten In­for­ma­ti­ons­in­ter­es­se der Öf­fent­lich­keit und ihrem Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung zu­rück­zu­tre­ten. Die Öf­fent­lich­keit be­sit­ze ein an­er­ken­nens­wer­tes In­ter­es­se daran, sich über ver­gan­ge­ne zeit­ge­schicht­li­che Er­eig­nis­se wie den A.-Pro­zess, der un­trenn­bar mit Per­son und Namen des Be­schwer­de­füh­rers ver­bun­den sei, an­hand un­ver­än­der­ter Ori­gi­nal­be­rich­te zu in­for­mie­ren.

Be­schwer­de­füh­rer rügte Ver­let­zung sei­nes Per­sön­lich­keits­rechts

Mit sei­ner Ver­fas­sungs­be­schwer­de rügte der Be­schwer­de­füh­rer eine Ver­let­zung sei­nes all­ge­mei­nen Per­sön­lich­keits­rechts. Er sei selbst mit sei­ner Tat nicht wie­der ins Licht der Öf­fent­lich­keit ge­tre­ten und wolle heute davon un­be­las­tet seine So­zi­al­be­zie­hun­gen ge­stal­ten. Dem­ge­gen­über wür­den Drit­te bei Ein­ga­be sei­nes Na­mens im Rah­men einer Such­ma­schi­nen-Re­cher­che, wie sie heute weit­hin üb­lich sei, an ers­ter Stel­le auf diese Be­rich­te ge­lenkt. Dies be­ein­träch­ti­ge ihn in der Ent­fal­tung sei­ner Per­sön­lich­keit schwer­wie­gend. Der da­ma­li­ge Mord­pro­zess stel­le zwar un­be­streit­bar ein zeit­ge­schicht­li­ches Er­eig­nis dar. Dar­aus folge nach so lan­ger Zeit je­doch nicht zwin­gend ein fort­dau­ern­des öf­fent­li­ches In­ter­es­se an der Nen­nung sei­nes Na­mens.

BVerfG: Uni­ons­recht­lich nicht voll­stän­dig de­ter­mi­nier­tes Fach­recht pri­mär am Maß­stab der deut­schen Grund­rech­te zu mes­sen

Die Ver­fas­sungs­be­schwer­de war er­folg­reich. Das BVerfG hat das Ur­teil des BGH auf­ge­ho­ben und die Sache zu­rück­ver­wie­sen. Der Be­schwer­de­füh­rer sei durch die BGH-Ent­schei­dung in sei­nem all­ge­mei­nen Per­sön­lich­keits­recht ver­letzt (Art. 2 Abs. 1 GG in Ver­bin­dung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Be­ur­tei­lungs­maß­stab der Ver­fas­sungs­be­schwer­de seien die Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes. Denn das BVerfG prüfe in­ner­staat­li­ches Recht und des­sen An­wen­dung grund­sätz­lich auch dann am Maß­stab der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes, wenn es im An­wen­dungs­be­reich des Uni­ons­rechts (hier: ur­sprüng­lich Da­ten­schutz­richt­li­nie 95/46/EG, jetzt DS-GVO) liegt, dabei aber – wie hier – durch die­ses nicht voll­stän­dig de­ter­mi­niert sei. Das gelte auch, so­weit im Ein­zel­fall nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-Grund­rech­te­char­ta da­ne­ben auch die EU-Grund­rech­te­char­ta Gel­tung be­an­spru­che. Die pri­mä­re An­wen­dung der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes stüt­ze sich dar­auf, dass das Uni­ons­recht dort, wo es den Mit­glied­staa­ten Ge­stal­tungs­spiel­räu­me ein­räu­me, re­gel­mä­ßig nicht auf eine Ein­heit­lich­keit des Grund­rechts­schut­zes ziele, und auf die Ver­mu­tung, dass dort ein auf Viel­falt ge­rich­te­tes grund­recht­li­ches Schutz­ni­veau des Uni­ons­rechts durch die An­wen­dung der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes mit­ge­währ­leis­tet sei.

Grund­rechts­viel­falt im ge­stal­tungs­of­fe­nen Uni­ons­recht

Be­las­se der Uni­ons­ge­setz­ge­ber den Mit­glied­staa­ten für die Um­set­zung des Uni­ons­rechts Ge­stal­tungs­spiel­räu­me, sei davon aus­zu­ge­hen, dass dies auch für den Grund­rechts­schutz gilt, so das BVerfG wei­ter. An­knüp­fend an die Recht­spre­chung des Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hofs könne hier re­gel­mä­ßig an­ge­nom­men wer­den, dass das eu­ro­päi­sche Grund­rechts­schutz­ni­veau in­ner­halb eines äu­ße­ren uni­ons­recht­li­chen Rah­mens Grund­rechts­viel­falt zu­lässt. Der Um­fang, in dem Raum für ver­schie­de­ne Wer­tun­gen der Mit­glied­staa­ten be­stehe, rich­te sich hier ma­ß­geb­lich nach dem uni­ons­recht­li­chen Fach­recht. Die­ses könne für die Um­set­zung mit­glied­staat­li­cher Ge­stal­tungs­spiel­räu­me al­ler­dings auch grund­recht­li­che Ma­ß­ga­ben ent­hal­ten. In­so­weit sei das Ver­hält­nis zwi­schen Fach­recht und Grund­rech­ten im Uni­ons­recht we­ni­ger sta­tisch als nach der deut­schen Ver­fas­sung.

Schutz­ni­veau der Uni­ons­grund­rech­te durch An­wen­dung deut­scher Grund­rech­te mit­ge­währ­leis­tet

Sei an­zu­neh­men, dass das Fach­recht auf Grund­rechts­viel­falt aus­ge­rich­tet ist, könne sich das BVerfG auf die Ver­mu­tung stüt­zen, dass durch eine Prü­fung am Maß­stab der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes das Schutz­ni­veau der Char­ta, wie sie vom EuGH aus­ge­legt werde, in der Regel mit­ge­währ­leis­tet ist. Laut BVerfG ist diese Ver­mu­tung von einer über­grei­fen­den Ver­bun­den­heit des Grund­ge­set­zes und der Char­ta in einer ge­mein­sa­men eu­ro­päi­schen Grund­rechts­tra­di­ti­on ge­tra­gen, die ins­be­son­de­re ein Fun­da­ment in der Eu­ro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on habe. Ent­spre­chend wür­den so­wohl die Char­ta als auch die Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes im Lich­te der Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on aus­ge­legt.

Deut­sche Grund­rech­te im Lich­te der EU-Grund­rech­te­char­ta aus­zu­le­gen

Das BVerfG er­läu­tert wei­ter, dass die pri­mä­re An­wen­dung der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes aber nicht be­deu­tet, dass dabei die Grund­rech­te­char­ta ohne Be­rück­sich­ti­gung blei­be. Viel­mehr seien die Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes im Lich­te der Char­ta aus­zu­le­gen. Damit werde die Ei­gen­stän­dig­keit der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes eben­so wenig in Frage ge­stellt wie ihre Aus­le­gung auch aus den Er­fah­run­gen der deut­schen Ge­schich­te und unter Be­rück­sich­ti­gung der spe­zi­fi­schen Struk­tu­ren der Rechts­ord­nung und ge­sell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit der Bun­des­re­pu­blik. Es sei nicht von vorn­her­ein ge­si­chert, dass die Grund­rechts­ver­bür­gun­gen des Grund­ge­set­zes und der Grund­rech­te­char­ta in jeder Hin­sicht de­ckungs­gleich sind. Wel­che Be­deu­tung an­de­ren Grund­rechts­quel­len für die Aus­le­gung der grund­ge­setz­li­chen Grund­rech­te zu­kom­me, sei eine Frage des Ein­zel­falls und hänge ins­be­son­de­re auch von Rang, In­halt und Ver­hält­nis der auf­ein­an­der ein­wir­ken­den Rechts­nor­men ab. In­so­weit könne sich eine Aus­le­gung im Licht der Char­ta von einer Aus­le­gung im Licht der Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on un­ter­schei­den.

Aus­nah­men von pri­mä­rer An­wen­dung deut­scher Grund­rech­te

Das BVerfG er­läu­tert an­schlie­ßend Aus­nah­men von der al­lei­ni­gen Her­an­zie­hung der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes als Prü­fungs­maß­stab für in­ner­staat­li­ches Recht, das der Durch­füh­rung ge­stal­tungs­of­fe­nen Uni­ons­rechts diene. Zum einen könne das Fach­recht, auch so­weit es den Mit­glied­staa­ten Ge­stal­tungs­spiel­räu­me be­las­se, aus­nahms­wei­se en­ge­re grund­recht­li­che Ma­ß­ga­ben ent­hal­ten. Zum an­de­ren sei, so­weit das Fach­recht Raum für grund­recht­li­che Viel­falt er­öff­ne, die Ver­mu­tung eines hin­rei­chen­den Grund­rechts­schut­zes durch die Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes wi­der­leg­lich. Un­be­scha­det des sub­stan­ti­el­len Gleich­klangs der Grund­rechts­ver­bür­gun­gen auf der Basis der Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on wie­sen die Mit­glied­staa­ten in ihren Grund­rechts­über­lie­fe­run­gen hin­sicht­lich des Aus­gleichs und der Ver­recht­li­chung von Grund­rechts­kon­flik­ten durch ihre Ge­schich­te und Le­bens­wirk­lich­keit ge­präg­te Un­ter­schie­de auf, die die Char­ta in Aus­gleich brin­gen, aber nicht ver­ein­heit­li­chen könne und wolle.

Kon­kre­te An­halts­punk­te für hö­he­res Schutz­ni­veau der uni­ons­recht­li­chen Grund­rech­te er­for­der­lich

Das BVerfG prä­zi­siert wei­ter, dass eine Prü­fung am Maß­stab al­lein der deut­schen Grund­rech­te nur dann nicht aus­rei­che, wenn kon­kre­te und hin­rei­chen­de An­halts­punk­te vor­lie­gen, dass hier­durch das grund­recht­li­che Schutz­ni­veau des Uni­ons­rechts nicht ge­wahrt sein könn­te. An­halts­punk­te dafür, dass das uni­ons­recht­li­che Fach­recht aus­nahms­wei­se spe­zi­fi­sche grund­recht­li­che Ma­ß­ga­ben für die mit­glied­staat­li­chen Ge­stal­tungs­spiel­räu­me ent­hal­ten solle, müss­ten sich aus dem Wort­laut und Re­ge­lungs­zu­sam­men­hang des Fach­rechts selbst er­ge­ben. Ein­schrän­kun­gen be­grün­de­ten sich in­so­weit nicht schon dar­aus, dass im uni­ons­recht­li­chen Fach­recht auf die un­ein­ge­schränk­te Ach­tung der Grund­rech­te­char­ta oder ein­zel­ner ihrer Be­stim­mun­gen ver­wie­sen wird. Einer mög­li­chen Wi­der­le­gung der Ver­mu­tung, dass die An­wen­dung der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes das grund­recht­li­che Schutz­ni­veau der Union mit­ge­währ­leis­te, sei eben­falls nur bei kon­kre­ten und hin­rei­chen­den An­halts­punk­ten nach­zu­ge­hen. Sei er­kenn­bar, dass der EuGH spe­zi­fi­sche Schutz­stan­dards zu­grun­de legt, die von den deut­schen Grund­rech­ten nicht ge­währ­leis­tet wür­den, so sei das in die Prü­fung ein­zu­be­zie­hen. Das­sel­be gelte, wenn sich das im Ein­zel­fall ma­ß­geb­li­che Schutz­ni­veau aus Rech­ten der Char­ta her­lei­tet, die keine Ent­spre­chung im Grund­ge­setz hät­ten.

Pri­mä­re An­wen­dung deut­scher Grund­rech­te lässt un­mit­tel­ba­re An­wend­bar­keit der EU-Grund­rech­te­char­ta un­be­rührt

Ge­währ­leis­te­ten die deut­schen Grund­rech­te das Schutz­ni­veau der Char­ta aus­nahms­wei­se nicht mit, seien die ent­spre­chen­den Rech­te der Char­ta in­so­weit in die Prü­fung ein­zu­be­zie­hen. So­weit sich hier­bei un­ge­klär­te Fra­gen hin­sicht­lich der Aus­le­gung der Char­ta stell­ten, lege das BVerfG diese dem EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vor. An­dern­falls habe das BVerfG die Uni­ons­grund­rech­te in sei­nen Prü­fungs­maß­stab ein­zu­be­zie­hen und grund­sätz­lich zur Gel­tung zu brin­gen. Die pri­mä­re Her­an­zie­hung der Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes durch das BVerfG stel­le die un­mit­tel­ba­re An­wend­bar­keit der Grund­rech­te­char­ta in deren An­wen­dungs­be­reich nicht in Frage. Ent­spre­chend könn­ten die Fach­ge­rich­te dem EuGH sich in­so­weit stel­len­de Aus­le­gungs­fra­gen zum Uni­ons­recht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV vor­le­gen. Dies lasse un­be­rührt, dass die Fach­ge­rich­te, so­weit das Uni­ons­recht den Mit­glied­staa­ten Ge­stal­tungs­spiel­räu­me be­las­se, immer auch die Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes zur An­wen­dung zu brin­gen haben.

Deut­sche Grund­rech­te hier al­lei­ni­ger Prü­fungs­maß­stab – Uni­ons­recht­li­cher Um­set­zungs­spiel­raum bei Me­di­en­pri­vi­leg

Das BVerfG fol­gert schlie­ß­lich, dass in dem vor­lie­gen­den Ver­fah­ren al­lein die Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes den Prü­fungs­maß­stab bil­de­ten. Der nach §§ 823, 1004 BGB ana­log zu ent­schei­den­de Rechts­streit be­fin­de sich zwar im An­wen­dungs­be­reich des Uni­ons­rechts. Die hier in Streit ste­hen­de Ver­brei­tung von Pres­se­be­rich­ten falle je­doch unter das so­ge­nann­te Me­di­en­pri­vi­leg, für des­sen Aus­ge­stal­tung den Mit­glied­staa­ten uni­ons­recht­lich ein Um­set­zungs­spiel­raum zu­ste­he. Es gehe damit nicht um die An­wen­dung von voll­stän­dig de­ter­mi­nier­tem Uni­ons­recht. An­halts­punk­te, dass der Grund­rechts­schutz des Grund­ge­set­zes hier das Schutz­ni­veau der Grund­rech­te­char­ta nicht ab­de­cken würde, seien nicht er­sicht­lich.

Für Be­schwer­de­füh­rer all­ge­mei­nes Per­sön­lich­keits­recht in Ab­wä­gung ein­zu­stel­len

An­schlie­ßend wid­met sich das BVerfG der Ab­wä­gung der zwi­schen Pri­va­ten im Wege der mit­tel­ba­ren Dritt­wir­kung gel­ten­den Grund­rech­te. Dabei sei auf Sei­ten des Be­schwer­de­füh­rers sein all­ge­mei­nes Per­sön­lich­keits­recht (Art. 2 Abs. 1 GG in Ver­bin­dung mit Art. 1 Abs. 1 GG) in sei­nen äu­ße­rungs­recht­li­chen Schutz­di­men­sio­nen ein­zu­stel­len, nicht aber das Recht auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung. Das all­ge­mei­ne Per­sön­lich­keits­recht in sei­nen äu­ße­rungs­recht­li­chen Di­men­sio­nen biete Schutz vor einer per­so­nen­be­zo­ge­nen Be­richt­erstat­tung und Ver­brei­tung von In­for­ma­tio­nen, die ge­eig­net seien, die Per­sön­lich­keits­ent­fal­tung er­heb­lich zu be­ein­träch­ti­gen. Es schüt­ze vor der Ver­brei­tung per­so­nen­be­zo­ge­ner Be­rich­te und In­for­ma­tio­nen im öf­fent­li­chen Raum als Er­geb­nis eines Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­zes­ses. Der Schutz des all­ge­mei­nen Per­sön­lich­keits­rechts sei al­ler­dings fle­xi­bel und durch die Ein­bin­dung der Per­son in ihre so­zia­len Be­zie­hun­gen re­la­ti­viert. Dem­nach folge aus dem Per­sön­lich­keits­recht nicht ein al­lein dem Ein­zel­nen über­las­se­nes um­fas­sen­des Ver­fü­gungs­recht über die Dar­stel­lung der ei­ge­nen Per­son. Es ziele je­doch dar­auf, die Grund­be­din­gun­gen dafür zu si­chern, dass die ein­zel­ne Per­son ihre In­di­vi­dua­li­tät selbst­be­stimmt ent­wi­ckeln und wah­ren kann.

Recht auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung nicht ein­schlä­gig

Hier­von ab­zu­gren­zen ist dem BVerfG zu­fol­ge das Recht auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung als ei­ge­ne Aus­prä­gung des all­ge­mei­nen Per­sön­lich­keits­rechts. Auch ihm könne im Wege der mit­tel­ba­ren Dritt­wir­kung im Zi­vil­recht Be­deu­tung zu­kom­men. Es biete Schutz davor, dass Drit­te sich in­di­vi­du­el­ler Daten be­mäch­ti­gen und sie in nicht nach­voll­zieh­ba­rer Weise als In­stru­ment nut­zen, um die Be­trof­fe­nen auf Ei­gen­schaf­ten, Typen oder Pro­fi­le fest­zu­le­gen, auf die sie kei­nen Ein­fluss haben und die dabei aber für die freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit sowie eine gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be in der Ge­sell­schaft von er­heb­li­cher Be­deu­tung sind. Dabei un­ter­schei­de sich seine Wir­kung zwi­schen Pri­va­ten von sei­ner un­mit­tel­bar staats­ge­rich­te­ten Schutz­wir­kung. Ins­be­son­de­re lie­ßen sich An­for­de­run­gen und Recht­fer­ti­gungs­las­ten hier nicht in glei­cher Weise for­mal be­stim­men, son­dern seien in Blick auf die un­ter­schied­li­chen Kon­stel­la­tio­nen zwi­schen Pri­va­ten je nach Schutz­be­darf durch Ab­wä­gung zu er­mit­teln. Eben­so wenig wie das Recht der Dar­stel­lung der ei­ge­nen Per­son be­grün­de das Recht auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung ein all­ge­mei­nes oder gar um­fas­sen­des Selbst­be­stim­mungs­recht über die Nut­zung der ei­ge­nen Daten. Es ge­währ­leis­te den Ein­zel­nen aber die Mög­lich­keit, in dif­fe­ren­zier­ter Weise dar­auf Ein­fluss zu neh­men, in wel­chem Kon­text und auf wel­che Weise die ei­ge­nen Daten an­de­ren zu­gäng­lich und von ihnen ge­nutzt wür­den. Es ent­hal­te damit die Ge­währ­leis­tung, über der ei­ge­nen Per­son gel­ten­de Zu­schrei­bun­gen selbst sub­stan­ti­ell mit­zu­ent­schei­den.

Für Spie­gel On­line Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit in Ab­wä­gung ein­zu­stel­len

Auf Sei­ten der Be­klag­ten seien die Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG) her­an­zu­zie­hen. Dem­ge­gen­über sei die Frei­heit der Rund­funk­be­richt­erstat­tung durch die Ein­stel­lung der Be­rich­te in ein On­line­ar­chiv nicht be­rührt. Die Ver­brei­tung von In­for­ma­tio­nen un­ter­fal­le nicht schon immer dann der Rund­funk­frei­heit, wenn sie sich dafür elek­tro­ni­scher In­for­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­te­me be­dient.

Zeit­li­che Um­stän­de für Ab­wä­gung im In­ter­net­zeit­al­ter be­son­ders be­deut­sam

Das BVerfG be­tont die Be­deu­tung der zeit­li­chen Um­stän­de für die Ab­wä­gung zwi­schen Pres­se­frei­heit und Per­sön­lich­keits­rechts­schutz. Wäh­rend die Recht­spre­chung für die ak­tu­el­le Be­richt­erstat­tung über Straf­ta­ten in der Regel dem In­for­ma­ti­ons­in­ter­es­se den Vor­rang ein­räu­me und je­den­falls be­züg­lich rechts­kräf­tig ver­ur­teil­ter Straf­tä­ter grund­sätz­lich auch iden­ti­fi­zie­ren­de Be­rich­te als zu­läs­sig an­se­he, habe sie gleich­zei­tig klar­ge­stellt, dass das be­rech­tig­te In­ter­es­se an einer iden­ti­fi­zie­ren­den Be­richt­erstat­tung mit zu­neh­men­dem zeit­li­chen Ab­stand zur Tat ab­nimmt. Unter den heu­ti­gen Be­din­gun­gen der In­for­ma­ti­ons­tech­no­lo­gie und der Ver­brei­tung von In­for­ma­tio­nen durch das In­ter­net be­kom­me die Be­rück­sich­ti­gung der Ein­bin­dung von In­for­ma­tio­nen in die Zeit indes eine neue recht­li­che Di­men­si­on. Wäh­rend In­for­ma­tio­nen frü­her als Print­me­di­en und Rund­funk­sen­dun­gen der Öf­fent­lich­keit nur in einem engen zeit­li­chen Rah­men zu­gäng­lich ge­we­sen und an­schlie­ßend weit­hin in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten seien, blie­ben sie heute – ein­mal di­gi­ta­li­siert und ins Netz ge­stellt – lang­fris­tig ver­füg­bar. Sie ent­fal­te­ten ihre Wir­kung in der Zeit nicht nur ge­fil­tert durch das flüch­ti­ge Er­in­nern im öf­fent­li­chen Dis­kurs fort, son­dern blie­ben un­mit­tel­bar für alle dau­er­haft ab­ruf­bar. Die In­for­ma­tio­nen könn­ten nun je­der­zeit von völ­lig un­be­kann­ten Drit­ten auf­ge­grif­fen wer­den, wür­den Ge­gen­stand der Er­ör­te­rung im Netz, könn­ten de­kon­tex­tua­li­siert neue Be­deu­tung er­hal­ten und in Kom­bi­na­ti­on mit wei­te­ren In­for­ma­tio­nen zu Pro­fi­len der Per­sön­lich­keit zu­sam­men­ge­führt wer­den, wie es ins­be­son­de­re mit­tels Such­ma­schi­nen durch na­mens­be­zo­ge­ne Ab­fra­gen ver­brei­tet sei.

"Recht auf Ver­ges­sen­wer­den“

Bei der Aus­le­gung und An­wen­dung des all­ge­mei­nen Per­sön­lich­keits­rechts sei dem Rech­nung zu tra­gen. Zur Frei­heit ge­hö­re es, per­sön­li­che Über­zeu­gun­gen und das ei­ge­ne Ver­hal­ten fort­zu­ent­wi­ckeln und zu ver­än­dern. Hier­für be­dür­fe es eines recht­li­chen Rah­mens, der es er­mög­li­che, von sei­ner Frei­heit un­ein­ge­schüch­tert Ge­brauch zu ma­chen, und die Chan­ce er­öff­ne, Irr­tü­mer und Feh­ler hin­ter sich zu las­sen. Die Rechts­ord­nung müsse des­halb davor schüt­zen, dass sich eine Per­son frü­he­re Po­si­tio­nen, Äu­ße­run­gen und Hand­lun­gen un­be­grenzt vor der Öf­fent­lich­keit vor­hal­ten las­sen muss. Erst die Er­mög­li­chung eines Zu­rück­tre­tens ver­gan­ge­ner Sach­ver­hal­te er­öff­ne die Chan­ce zum Neu­be­ginn in Frei­heit. Die Mög­lich­keit des Ver­ges­sens ge­hö­re zur Zeit­lich­keit der Frei­heit. Bild­lich werde dies zum Teil auch als "Recht auf Ver­ges­sen" oder als "Recht auf Ver­ges­sen­wer­den" be­zeich­net.

Keine um­fas­sen­de Ver­fü­gungs­be­fug­nis über öf­fent­lich zu­gäng­li­che per­so­nen­be­zo­ge­ne In­for­ma­tio­nen

Al­ler­dings folge aus dem all­ge­mei­nen Per­sön­lich­keits­recht kein "Recht auf Ver­ges­sen­wer­den" in einem grund­sätz­lich al­lein von den Be­trof­fe­nen be­herrsch­ba­ren Sinn, un­ter­streicht das BVerfG. Wel­che In­for­ma­tio­nen als in­ter­es­sant, be­wun­derns­wert, an­stö­ßig oder ver­werf­lich er­in­nert wer­den, un­ter­lie­ge in­so­weit nicht der ein­sei­ti­gen Ver­fü­gung des Be­trof­fe­nen. Aus dem all­ge­mei­nen Per­sön­lich­keits­recht folge damit nicht das Recht, alle frü­he­ren per­so­nen­be­zo­ge­nen In­for­ma­tio­nen, die im Rah­men von Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­zes­sen aus­ge­tauscht wur­den, aus dem In­ter­net lö­schen zu las­sen. Ins­be­son­de­re gebe es kein Recht, öf­fent­lich zu­gäng­li­che In­for­ma­tio­nen nach frei­er Ent­schei­dung und al­lein ei­ge­nen Vor­stel­lun­gen zu fil­tern und auf die As­pek­te zu be­gren­zen, die Be­trof­fe­ne für re­le­vant oder für dem ei­ge­nen Per­sön­lich­keits­bild an­ge­mes­sen hal­ten.

Be­deu­tung von On­line Ar­chi­ven bei Ab­wä­gung zu be­rück­sich­ti­gen

Auf der Ge­gen­sei­te sei dem Schutz­ge­halt der Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit an­ge­mes­sen Rech­nung zu tra­gen. Eine Be­gren­zung auf eine an­ony­mi­sier­te Be­richt­erstat­tung be­deu­te eine ge­wich­ti­ge Be­schrän­kung von In­for­ma­ti­ons­mög­lich­kei­ten der Öf­fent­lich­keit sowie des Rechts der Pres­se, selbst zu ent­schei­den, wor­über sie wann, wie lange und in wel­cher Form be­rich­te. Sol­che Ar­chi­ve er­mög­lich­ten einen ein­fa­chen Zu­gang zu In­for­ma­tio­nen und seien zu­gleich eine wich­ti­ge Quel­le für jour­na­lis­ti­sche und zeit­his­to­ri­sche Re­cher­chen. Auch für Bil­dung und Er­zie­hung sowie für die öf­fent­li­che De­bat­te in der De­mo­kra­tie komme ihnen eine wich­ti­ge Rolle zu.

Wir­kung und Ge­gen­stand der Be­richt­erstat­tung ma­ß­geb­lich für Be­deu­tung der zeit­li­chen Um­stän­de

An­schlie­ßend stellt das BVerfG Ma­ß­ga­ben für die von den Fach­ge­rich­ten vor­zu­neh­men­de Ab­wä­gung auf. Da­nach dürfe ein Ver­lag an­fäng­lich recht­mä­ßig ver­öf­fent­lich­te Be­rich­te grund­sätz­lich auch in ein On­line­ar­chiv ein­stel­len. Schutz­maß­nah­men könn­ten erst dann ge­bo­ten sein, wenn Be­trof­fe­ne sich an ihn ge­wandt und ihre Schutz­be­dürf­tig­keit näher dar­ge­legt haben. Für die Frage, wel­che Be­deu­tung ver­stri­che­ner Zeit für den Schutz ge­gen­über einer ur­sprüng­lich recht­mä­ßi­gen Ver­öf­fent­li­chung zu­kom­me, liege ein we­sent­li­cher As­pekt in Wir­kung und Ge­gen­stand der Be­richt­erstat­tung, ins­be­son­de­re darin, wie­weit die Be­rich­te das Pri­vat­le­ben und die Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten der Per­son als ganze be­ein­träch­tig­ten. Be­deut­sam sei, neben dem neu ge­won­ne­nen Kon­text der Be­rich­te und dem zwi­schen­zeit­li­chen Ver­hal­ten des Be­trof­fe­nen, in wel­cher Ein­bin­dung die In­for­ma­tio­nen unter den kon­kre­ten Um­stän­den im Netz kom­mu­ni­ziert wür­den. Die Be­las­tung der Be­trof­fe­nen hänge auch daran, wie­weit eine In­for­ma­ti­on im Netz tat­säch­lich brei­ten­wirk­sam ge­streut, etwa wie­weit sie von Such­ma­schi­nen prio­ri­tär kom­mu­ni­ziert werde.

Mög­li­che Schutz­maß­nah­men gegen Auf­find­bar­keit in Ab­wä­gung zu be­rück­sich­ti­gen

Für den Aus­gleich seien zudem Ab­stu­fun­gen hin­sicht­lich der Art mög­li­cher Schutz­maß­nah­men vom Pres­se­ver­lag zu be­rück­sich­ti­gen, die die sich än­dern­den Be­deu­tun­gen von In­for­ma­tio­nen in der Zeit ab­fe­der­ten. An­zu­stre­ben sei ein Aus­gleich, der einen un­ge­hin­der­ten Zu­griff auf den Ori­gi­nal­text mög­lichst weit­ge­hend er­hal­te, die­sen bei Schutz­be­darf – ins­be­son­de­re ge­gen­über na­mens­be­zo­ge­nen Such­ab­fra­gen mit­tels Such­ma­schi­nen – aber ein­zel­fall­be­zo­gen doch hin­rei­chend be­gren­ze.

BGH hätte Pflicht zu Schutz­vor­keh­run­gen prü­fen müs­sen

Das BVerfG be­an­stan­det, dass die an­ge­grif­fe­ne Ent­schei­dung die­sen An­for­de­run­gen nicht in jeder Hin­sicht stand­hal­te. Vor­lie­gend wäre in Be­tracht zu zie­hen ge­we­sen, ob dem be­klag­ten Pres­se­un­ter­neh­men auf die An­zei­ge des Be­schwer­de­füh­rers hin zu­mut­ba­re Vor­keh­run­gen hät­ten auf­er­legt wer­den kön­nen und müs­sen, die zu­min­dest gegen die Auf­find­bar­keit der Be­rich­te durch Such­ma­schi­nen bei na­mens­be­zo­ge­nen Such­ab­fra­gen einen ge­wis­sen Schutz böten, ohne die Auf­find­bar­keit und Zu­gäng­lich­keit des Be­richts im Üb­ri­gen über­mä­ßig zu hin­dern.

BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 - 1 BvR 16/13

Redaktion beck-aktuell, 27. November 2019.

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