Identifizierende Artikel über Mord vor 40 Jahren in Spiegel-Online-Archiv abrufbar
Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 1982 rechtskräftig wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er 1981 an Bord einer Yacht auf hoher See zwei Menschen erschossen hatte. Über den Fall veröffentlichte "Der Spiegel" 1982 und 1983 unter Auseinandersetzung mit der Person des namentlich genannten Beschwerdeführers drei Artikel in seiner gedruckten Ausgabe. Seit 1999 stellt die beklagte Spiegel Online GmbH die Berichte in einem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zum Abruf bereit. Gibt man den Namen des Beschwerdeführers in einem gängigen Internetsuchportal ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt.
BGH wies Unterlassungsklage ab
Nachdem der 2002 aus der Haft entlassene Beschwerdeführer erstmals im Jahr 2009 Kenntnis von der Online-Veröffentlichung erlangt hatte, erhob er nach erfolgloser Abmahnung Unterlassungsklage mit dem Antrag, es der Beklagten zu untersagen, über die Straftat unter Nennung seines Familiennamens zu berichten. Der Bundesgerichtshof wies die Klage ab. Im Streitfall habe das Interesse des Beschwerdeführers am Schutz seiner Persönlichkeit hinter dem von der Beklagten verfolgten Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung zurückzutreten. Die Öffentlichkeit besitze ein anerkennenswertes Interesse daran, sich über vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse wie den A.-Prozess, der untrennbar mit Person und Namen des Beschwerdeführers verbunden sei, anhand unveränderter Originalberichte zu informieren.
Beschwerdeführer rügte Verletzung seines Persönlichkeitsrechts
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Er sei selbst mit seiner Tat nicht wieder ins Licht der Öffentlichkeit getreten und wolle heute davon unbelastet seine Sozialbeziehungen gestalten. Demgegenüber würden Dritte bei Eingabe seines Namens im Rahmen einer Suchmaschinen-Recherche, wie sie heute weithin üblich sei, an erster Stelle auf diese Berichte gelenkt. Dies beeinträchtige ihn in der Entfaltung seiner Persönlichkeit schwerwiegend. Der damalige Mordprozess stelle zwar unbestreitbar ein zeitgeschichtliches Ereignis dar. Daraus folge nach so langer Zeit jedoch nicht zwingend ein fortdauerndes öffentliches Interesse an der Nennung seines Namens.
BVerfG: Unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes Fachrecht primär am Maßstab der deutschen Grundrechte zu messen
Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Das BVerfG hat das Urteil des BGH aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Der Beschwerdeführer sei durch die BGH-Entscheidung in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Beurteilungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde seien die Grundrechte des Grundgesetzes. Denn das BVerfG prüfe innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts (hier: ursprünglich Datenschutzrichtlinie 95/46/EG, jetzt DS-GVO) liegt, dabei aber – wie hier – durch dieses nicht vollständig determiniert sei. Das gelte auch, soweit im Einzelfall nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-Grundrechtecharta daneben auch die EU-Grundrechtecharta Geltung beanspruche. Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes stütze sich darauf, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume einräume, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes ziele, und auf die Vermutung, dass dort ein auf Vielfalt gerichtetes grundrechtliches Schutzniveau des Unionsrechts durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet sei.
Grundrechtsvielfalt im gestaltungsoffenen Unionsrecht
Belasse der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten für die Umsetzung des Unionsrechts Gestaltungsspielräume, sei davon auszugehen, dass dies auch für den Grundrechtsschutz gilt, so das BVerfG weiter. Anknüpfend an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs könne hier regelmäßig angenommen werden, dass das europäische Grundrechtsschutzniveau innerhalb eines äußeren unionsrechtlichen Rahmens Grundrechtsvielfalt zulässt. Der Umfang, in dem Raum für verschiedene Wertungen der Mitgliedstaaten bestehe, richte sich hier maßgeblich nach dem unionsrechtlichen Fachrecht. Dieses könne für die Umsetzung mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume allerdings auch grundrechtliche Maßgaben enthalten. Insoweit sei das Verhältnis zwischen Fachrecht und Grundrechten im Unionsrecht weniger statisch als nach der deutschen Verfassung.
Schutzniveau der Unionsgrundrechte durch Anwendung deutscher Grundrechte mitgewährleistet
Sei anzunehmen, dass das Fachrecht auf Grundrechtsvielfalt ausgerichtet ist, könne sich das BVerfG auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt werde, in der Regel mitgewährleistet ist. Laut BVerfG ist diese Vermutung von einer übergreifenden Verbundenheit des Grundgesetzes und der Charta in einer gemeinsamen europäischen Grundrechtstradition getragen, die insbesondere ein Fundament in der Europäischen Menschenrechtskonvention habe. Entsprechend würden sowohl die Charta als auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Menschenrechtskonvention ausgelegt.
Deutsche Grundrechte im Lichte der EU-Grundrechtecharta auszulegen
Das BVerfG erläutert weiter, dass die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes aber nicht bedeutet, dass dabei die Grundrechtecharta ohne Berücksichtigung bleibe. Vielmehr seien die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen. Damit werde die Eigenständigkeit der Grundrechte des Grundgesetzes ebenso wenig in Frage gestellt wie ihre Auslegung auch aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte und unter Berücksichtigung der spezifischen Strukturen der Rechtsordnung und gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik. Es sei nicht von vornherein gesichert, dass die Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes und der Grundrechtecharta in jeder Hinsicht deckungsgleich sind. Welche Bedeutung anderen Grundrechtsquellen für die Auslegung der grundgesetzlichen Grundrechte zukomme, sei eine Frage des Einzelfalls und hänge insbesondere auch von Rang, Inhalt und Verhältnis der aufeinander einwirkenden Rechtsnormen ab. Insoweit könne sich eine Auslegung im Licht der Charta von einer Auslegung im Licht der Menschenrechtskonvention unterscheiden.
Ausnahmen von primärer Anwendung deutscher Grundrechte
Das BVerfG erläutert anschließend Ausnahmen von der alleinigen Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab für innerstaatliches Recht, das der Durchführung gestaltungsoffenen Unionsrechts diene. Zum einen könne das Fachrecht, auch soweit es den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belasse, ausnahmsweise engere grundrechtliche Maßgaben enthalten. Zum anderen sei, soweit das Fachrecht Raum für grundrechtliche Vielfalt eröffne, die Vermutung eines hinreichenden Grundrechtsschutzes durch die Grundrechte des Grundgesetzes widerleglich. Unbeschadet des substantiellen Gleichklangs der Grundrechtsverbürgungen auf der Basis der Menschenrechtskonvention wiesen die Mitgliedstaaten in ihren Grundrechtsüberlieferungen hinsichtlich des Ausgleichs und der Verrechtlichung von Grundrechtskonflikten durch ihre Geschichte und Lebenswirklichkeit geprägte Unterschiede auf, die die Charta in Ausgleich bringen, aber nicht vereinheitlichen könne und wolle.
Konkrete Anhaltspunkte für höheres Schutzniveau der unionsrechtlichen Grundrechte erforderlich
Das BVerfG präzisiert weiter, dass eine Prüfung am Maßstab allein der deutschen Grundrechte nur dann nicht ausreiche, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass hierdurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts nicht gewahrt sein könnte. Anhaltspunkte dafür, dass das unionsrechtliche Fachrecht ausnahmsweise spezifische grundrechtliche Maßgaben für die mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielräume enthalten solle, müssten sich aus dem Wortlaut und Regelungszusammenhang des Fachrechts selbst ergeben. Einschränkungen begründeten sich insoweit nicht schon daraus, dass im unionsrechtlichen Fachrecht auf die uneingeschränkte Achtung der Grundrechtecharta oder einzelner ihrer Bestimmungen verwiesen wird. Einer möglichen Widerlegung der Vermutung, dass die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes das grundrechtliche Schutzniveau der Union mitgewährleiste, sei ebenfalls nur bei konkreten und hinreichenden Anhaltspunkten nachzugehen. Sei erkennbar, dass der EuGH spezifische Schutzstandards zugrunde legt, die von den deutschen Grundrechten nicht gewährleistet würden, so sei das in die Prüfung einzubeziehen. Dasselbe gelte, wenn sich das im Einzelfall maßgebliche Schutzniveau aus Rechten der Charta herleitet, die keine Entsprechung im Grundgesetz hätten.
Primäre Anwendung deutscher Grundrechte lässt unmittelbare Anwendbarkeit der EU-Grundrechtecharta unberührt
Gewährleisteten die deutschen Grundrechte das Schutzniveau der Charta ausnahmsweise nicht mit, seien die entsprechenden Rechte der Charta insoweit in die Prüfung einzubeziehen. Soweit sich hierbei ungeklärte Fragen hinsichtlich der Auslegung der Charta stellten, lege das BVerfG diese dem EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vor. Andernfalls habe das BVerfG die Unionsgrundrechte in seinen Prüfungsmaßstab einzubeziehen und grundsätzlich zur Geltung zu bringen. Die primäre Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes durch das BVerfG stelle die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechtecharta in deren Anwendungsbereich nicht in Frage. Entsprechend könnten die Fachgerichte dem EuGH sich insoweit stellende Auslegungsfragen zum Unionsrecht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV vorlegen. Dies lasse unberührt, dass die Fachgerichte, soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belasse, immer auch die Grundrechte des Grundgesetzes zur Anwendung zu bringen haben.
Deutsche Grundrechte hier alleiniger Prüfungsmaßstab – Unionsrechtlicher Umsetzungsspielraum bei Medienprivileg
Das BVerfG folgert schließlich, dass in dem vorliegenden Verfahren allein die Grundrechte des Grundgesetzes den Prüfungsmaßstab bildeten. Der nach §§ 823, 1004 BGB analog zu entscheidende Rechtsstreit befinde sich zwar im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die hier in Streit stehende Verbreitung von Presseberichten falle jedoch unter das sogenannte Medienprivileg, für dessen Ausgestaltung den Mitgliedstaaten unionsrechtlich ein Umsetzungsspielraum zustehe. Es gehe damit nicht um die Anwendung von vollständig determiniertem Unionsrecht. Anhaltspunkte, dass der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes hier das Schutzniveau der Grundrechtecharta nicht abdecken würde, seien nicht ersichtlich.
Für Beschwerdeführer allgemeines Persönlichkeitsrecht in Abwägung einzustellen
Anschließend widmet sich das BVerfG der Abwägung der zwischen Privaten im Wege der mittelbaren Drittwirkung geltenden Grundrechte. Dabei sei auf Seiten des Beschwerdeführers sein allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) in seinen äußerungsrechtlichen Schutzdimensionen einzustellen, nicht aber das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seinen äußerungsrechtlichen Dimensionen biete Schutz vor einer personenbezogenen Berichterstattung und Verbreitung von Informationen, die geeignet seien, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen. Es schütze vor der Verbreitung personenbezogener Berichte und Informationen im öffentlichen Raum als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses. Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei allerdings flexibel und durch die Einbindung der Person in ihre sozialen Beziehungen relativiert. Demnach folge aus dem Persönlichkeitsrecht nicht ein allein dem Einzelnen überlassenes umfassendes Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person. Es ziele jedoch darauf, die Grundbedingungen dafür zu sichern, dass die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren kann.
Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht einschlägig
Hiervon abzugrenzen ist dem BVerfG zufolge das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als eigene Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Auch ihm könne im Wege der mittelbaren Drittwirkung im Zivilrecht Bedeutung zukommen. Es biete Schutz davor, dass Dritte sich individueller Daten bemächtigen und sie in nicht nachvollziehbarer Weise als Instrument nutzen, um die Betroffenen auf Eigenschaften, Typen oder Profile festzulegen, auf die sie keinen Einfluss haben und die dabei aber für die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie eine gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind. Dabei unterscheide sich seine Wirkung zwischen Privaten von seiner unmittelbar staatsgerichteten Schutzwirkung. Insbesondere ließen sich Anforderungen und Rechtfertigungslasten hier nicht in gleicher Weise formal bestimmen, sondern seien in Blick auf die unterschiedlichen Konstellationen zwischen Privaten je nach Schutzbedarf durch Abwägung zu ermitteln. Ebenso wenig wie das Recht der Darstellung der eigenen Person begründe das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein allgemeines oder gar umfassendes Selbstbestimmungsrecht über die Nutzung der eigenen Daten. Es gewährleiste den Einzelnen aber die Möglichkeit, in differenzierter Weise darauf Einfluss zu nehmen, in welchem Kontext und auf welche Weise die eigenen Daten anderen zugänglich und von ihnen genutzt würden. Es enthalte damit die Gewährleistung, über der eigenen Person geltende Zuschreibungen selbst substantiell mitzuentscheiden.
Für Spiegel Online Meinungs- und Pressefreiheit in Abwägung einzustellen
Auf Seiten der Beklagten seien die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG) heranzuziehen. Demgegenüber sei die Freiheit der Rundfunkberichterstattung durch die Einstellung der Berichte in ein Onlinearchiv nicht berührt. Die Verbreitung von Informationen unterfalle nicht schon immer dann der Rundfunkfreiheit, wenn sie sich dafür elektronischer Informations- und Kommunikationssysteme bedient.
Zeitliche Umstände für Abwägung im Internetzeitalter besonders bedeutsam
Das BVerfG betont die Bedeutung der zeitlichen Umstände für die Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechtsschutz. Während die Rechtsprechung für die aktuelle Berichterstattung über Straftaten in der Regel dem Informationsinteresse den Vorrang einräume und jedenfalls bezüglich rechtskräftig verurteilter Straftäter grundsätzlich auch identifizierende Berichte als zulässig ansehe, habe sie gleichzeitig klargestellt, dass das berechtigte Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Tat abnimmt. Unter den heutigen Bedingungen der Informationstechnologie und der Verbreitung von Informationen durch das Internet bekomme die Berücksichtigung der Einbindung von Informationen in die Zeit indes eine neue rechtliche Dimension. Während Informationen früher als Printmedien und Rundfunksendungen der Öffentlichkeit nur in einem engen zeitlichen Rahmen zugänglich gewesen und anschließend weithin in Vergessenheit geraten seien, blieben sie heute – einmal digitalisiert und ins Netz gestellt – langfristig verfügbar. Sie entfalteten ihre Wirkung in der Zeit nicht nur gefiltert durch das flüchtige Erinnern im öffentlichen Diskurs fort, sondern blieben unmittelbar für alle dauerhaft abrufbar. Die Informationen könnten nun jederzeit von völlig unbekannten Dritten aufgegriffen werden, würden Gegenstand der Erörterung im Netz, könnten dekontextualisiert neue Bedeutung erhalten und in Kombination mit weiteren Informationen zu Profilen der Persönlichkeit zusammengeführt werden, wie es insbesondere mittels Suchmaschinen durch namensbezogene Abfragen verbreitet sei.
"Recht auf Vergessenwerden“
Bei der Auslegung und Anwendung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei dem Rechnung zu tragen. Zur Freiheit gehöre es, persönliche Überzeugungen und das eigene Verhalten fortzuentwickeln und zu verändern. Hierfür bedürfe es eines rechtlichen Rahmens, der es ermögliche, von seiner Freiheit uneingeschüchtert Gebrauch zu machen, und die Chance eröffne, Irrtümer und Fehler hinter sich zu lassen. Die Rechtsordnung müsse deshalb davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte eröffne die Chance zum Neubeginn in Freiheit. Die Möglichkeit des Vergessens gehöre zur Zeitlichkeit der Freiheit. Bildlich werde dies zum Teil auch als "Recht auf Vergessen" oder als "Recht auf Vergessenwerden" bezeichnet.
Keine umfassende Verfügungsbefugnis über öffentlich zugängliche personenbezogene Informationen
Allerdings folge aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kein "Recht auf Vergessenwerden" in einem grundsätzlich allein von den Betroffenen beherrschbaren Sinn, unterstreicht das BVerfG. Welche Informationen als interessant, bewundernswert, anstößig oder verwerflich erinnert werden, unterliege insoweit nicht der einseitigen Verfügung des Betroffenen. Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folge damit nicht das Recht, alle früheren personenbezogenen Informationen, die im Rahmen von Kommunikationsprozessen ausgetauscht wurden, aus dem Internet löschen zu lassen. Insbesondere gebe es kein Recht, öffentlich zugängliche Informationen nach freier Entscheidung und allein eigenen Vorstellungen zu filtern und auf die Aspekte zu begrenzen, die Betroffene für relevant oder für dem eigenen Persönlichkeitsbild angemessen halten.
Bedeutung von Online Archiven bei Abwägung zu berücksichtigen
Auf der Gegenseite sei dem Schutzgehalt der Meinungs- und Pressefreiheit angemessen Rechnung zu tragen. Eine Begrenzung auf eine anonymisierte Berichterstattung bedeute eine gewichtige Beschränkung von Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit sowie des Rechts der Presse, selbst zu entscheiden, worüber sie wann, wie lange und in welcher Form berichte. Solche Archive ermöglichten einen einfachen Zugang zu Informationen und seien zugleich eine wichtige Quelle für journalistische und zeithistorische Recherchen. Auch für Bildung und Erziehung sowie für die öffentliche Debatte in der Demokratie komme ihnen eine wichtige Rolle zu.
Wirkung und Gegenstand der Berichterstattung maßgeblich für Bedeutung der zeitlichen Umstände
Anschließend stellt das BVerfG Maßgaben für die von den Fachgerichten vorzunehmende Abwägung auf. Danach dürfe ein Verlag anfänglich rechtmäßig veröffentlichte Berichte grundsätzlich auch in ein Onlinearchiv einstellen. Schutzmaßnahmen könnten erst dann geboten sein, wenn Betroffene sich an ihn gewandt und ihre Schutzbedürftigkeit näher dargelegt haben. Für die Frage, welche Bedeutung verstrichener Zeit für den Schutz gegenüber einer ursprünglich rechtmäßigen Veröffentlichung zukomme, liege ein wesentlicher Aspekt in Wirkung und Gegenstand der Berichterstattung, insbesondere darin, wieweit die Berichte das Privatleben und die Entfaltungsmöglichkeiten der Person als ganze beeinträchtigten. Bedeutsam sei, neben dem neu gewonnenen Kontext der Berichte und dem zwischenzeitlichen Verhalten des Betroffenen, in welcher Einbindung die Informationen unter den konkreten Umständen im Netz kommuniziert würden. Die Belastung der Betroffenen hänge auch daran, wieweit eine Information im Netz tatsächlich breitenwirksam gestreut, etwa wieweit sie von Suchmaschinen prioritär kommuniziert werde.
Mögliche Schutzmaßnahmen gegen Auffindbarkeit in Abwägung zu berücksichtigen
Für den Ausgleich seien zudem Abstufungen hinsichtlich der Art möglicher Schutzmaßnahmen vom Presseverlag zu berücksichtigen, die die sich ändernden Bedeutungen von Informationen in der Zeit abfederten. Anzustreben sei ein Ausgleich, der einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext möglichst weitgehend erhalte, diesen bei Schutzbedarf – insbesondere gegenüber namensbezogenen Suchabfragen mittels Suchmaschinen – aber einzelfallbezogen doch hinreichend begrenze.
BGH hätte Pflicht zu Schutzvorkehrungen prüfen müssen
Das BVerfG beanstandet, dass die angegriffene Entscheidung diesen Anforderungen nicht in jeder Hinsicht standhalte. Vorliegend wäre in Betracht zu ziehen gewesen, ob dem beklagten Presseunternehmen auf die Anzeige des Beschwerdeführers hin zumutbare Vorkehrungen hätten auferlegt werden können und müssen, die zumindest gegen die Auffindbarkeit der Berichte durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen einen gewissen Schutz böten, ohne die Auffindbarkeit und Zugänglichkeit des Berichts im Übrigen übermäßig zu hindern.