BVerfG zum Recht auf Resozialisierung: Vollzugslockerungen für langjährig Inhaftierte zu Unrecht versagt

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschlüssen vom 18.10.2019 drei Verfassungsbeschwerden langjährig Inhaftierter stattgegeben, denen Vollzugslockerungen in Form von Ausführungen versagt worden waren. Die Vollstreckungsgerichte hätten die Bedeutung des Grundrechts auf Resozialisierung grundlegend verkannt, indem sie konkrete Anhaltspunkte für eine Einschränkung der Lebenstüchtigkeit der Gefangenen gefordert hatten. Denn das Gebot, die Lebenstüchtigkeit zu erhalten, greife bereits früher, da es gerade auch sicherstellen solle, dass die Gefangenen im Fall einer Entlassung aus der Haft ein normales Leben in Freiheit führen können, so das BVerfG. Die Vollstreckungsgerichte müssen nun erneut entscheiden (Az.: 2 BvR 1165/19, 2 BvR 681/19, 2 BvR 650/19).

Langjährig Inhaftierte begehrten Ausführungen

Die Verfassungsbeschwerden betreffen in allen Verfahren die Gewährung von Vollzugslockerungen für Strafgefangene, die sich seit über sieben, zwölf und vierzehn Jahren in Haft befinden. Die Beschwerdeführer hatten jeweils Ausführungen (Ausgang unter ständiger Aufsicht von Bediensteten) zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit beantragt, die durch die jeweiligen Justizvollzugsanstalten abgelehnt worden waren. Alle Beschwerdeführer beantragten erfolglos die Aufhebung der entsprechenden Entscheidungen der Justizvollzugsanstalten. Auch die Beschwerden zu den jeweiligen Oberlandesgerichten blieben erfolglos. Die Beschwerdeführer legten dagegen Verfassungsbeschwerde ein und rügten unter anderem eine Verletzung ihres Grundrechts auf Resozialisierung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

BVerfG: Grundrecht auf Resozialisierung verletzt

Das BVerfG hat den Verfassungsbeschwerden stattgegeben und die Verfahren unter Aufhebung der angegriffenen Beschlüsse zur erneuten Entscheidung an die Landgerichte zurückverwiesen. Die angegriffenen Beschlüsse verletzten die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf Resozialisierung. Dieses Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichte den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordere dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen. Dabei greife das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist. Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Fall der Entlassung aus der Haft zu behalten, habe ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert.

Ausführungen können bei langjährig Inhaftierten geboten sein

Wie das BVerfG weiter darlegt, dienten Ausführungen gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinn (Begleitausgang, Ausgang, Freigang) etwa wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht erfüllen, dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit. Bei langjährig Inhaftierten könne es daher, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive bestehe, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt. Der damit verbundene personelle Aufwand sei dann hinzunehmen.

Bei Versagung konkrete Anhaltspunkte für Flucht- oder Missbrauchsgefahr darzulegen

Aufgrund dieser Bedeutung dürfe sich eine Justizvollzugsanstalt, wenn sie vollzugslockernde Maßnahmen und insbesondere Ausführungen versagt, nicht auf bloße pauschale Wertungen oder auf den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Missbrauchsgefahr beschränken, betont das BVerfG. Sie müsse vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darlegen, die geeignet seien, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren. Ob dies geschehen sei, müsse die Strafvollstreckungskammer überprüfen.

Trotz Beurteilungsspielraums umfassende Prüfungspflicht der Vollstreckungsgerichte

Laut BVerfG verlangt der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr zwar eine Prognoseentscheidung. Er eröffne der Vollzugsbehörde einen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Beurteilungsspielraum, in dessen Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen könne, die gleichermaßen rechtlich vertretbar seien. Der Beurteilungsspielraum entbinde die Vollstreckungsgerichte aber nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht. Das Gericht müsse dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufklären und dabei feststellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat.  

Eingeschränkte Kontrolle durch BVerfG

Lege die Strafvollstreckungskammer ihrer Entscheidung diesen Maßstab zugrunde, prüfe das BVerfG lediglich, ob das Gericht der Vollzugsbehörde einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs verkannt habe und ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des dargelegten fachgerichtlichen Maßstabs schlechthin nicht mehr nachvollziehbar sei und damit den aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 GG) verletze.

Erhaltung der Lebenstüchtigkeit soll normales Leben in Freiheit ermöglichen

Das BVerfG kommt unter Anwendung dieses Maßstabs zu dem Ergebnis, dass die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben können. In allen Verfahren seien die Gerichte davon ausgegangen, dass die Voraussetzung von Ausführungen die (konkrete) Gefahr sei, dass Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit drohten. Sie hätten damit den Sinn des grundrechtlichen Gebots, einem Verlust der Lebenstüchtigkeit der Gefangenen nach Möglichkeit entgegenzuwirken beziehungsweise deren Lebenstüchtigkeit zu festigen, verfehlt. Dieses Gebot beziehe sich als Element der staatlichen Verpflichtung, den Haftvollzug am Resozialisierungsziel auszurichten, offensichtlich nicht nur auf den drohenden Verlust von für das Leben in Haft bedeutsamen Fähigkeiten, sondern gerade auch auf die Erhaltung der Tüchtigkeit für ein Leben in Freiheit. Gefangene sollen so lebenstüchtig bleiben, dass sie sich im Fall einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfinden, so das BVerfG.

Bedeutung des Resozialisierungsgrundrechts durch Vollstreckungsgerichte grundlegend verkannt

Mit der Annahme, das Gebot, die Lebenstüchtigkeit der Gefangenen zu erhalten und zu festigen, greife erst ein, wenn Gefangene Anzeichen einer drohenden haftbedingten Depravation aufweisen, die sich bereits als Einschränkung ihrer Lebenstüchtigkeit unter den Verhältnissen der Haft bemerkbar mache, werde es daher grundlegend missverstanden. Dem hohen Gewicht, das dem Resozialisierungsinteresse der Beschwerdeführer nach langjährigem Freiheitsentzug für die Ermessensentscheidung der Justizvollzugsanstalten zugekommen sei, hätten die Gerichte auf diese Weise in allen Verfahren nicht hinreichend Rechnung getragen.

BVerfG, Beschluss vom 18.10.2019 - 2 BvR 1165/19

Redaktion beck-aktuell, 18. Oktober 2019.