Zeitung mit Verfassungsbeschwerde gegen Untersagung einer Meinungsäußerung erfolgreich

Die Herausgeberin einer Tageszeitung war mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die gerichtliche Untersagung einer Meinungsäußerung erfolgreich. Die Zeitung hatte über den Führer einer aus Sicht ehemaliger Mitglieder sektenähnlichen Gemeinschaft geschrieben, dass dieser den Staat ablehne. Das Bundesverfassungsgericht sah durch die Entscheidung die Meinungs- und Pressefreiheit verletzt.

OLG untersagte Verbreitung der Äußerung

In der Onlineausgabe der Zeitung erschien 2020 der Beitrag "Aussteiger packen aus: So geht es in der Guru-Gemeinschaft zu". Der Bericht beleuchtet kritisch inhaltliche Ausrichtung, Strukturen und Hierarchien innerhalb einer aus Sicht ehemaliger Mitglieder sektenähnlichen Gemeinschaft. Unter Bezugnahme auf die Aussage eines ehemaligen Mitglieds steht in dem Beitrag, dass der Vorstand der Gemeinschaft den Staat ablehne. Anders als die Ausgangsinstanz untersagte das OLG die Verbreitung der angegriffenen Äußerung. Trotz des grundsätzlichen Vorrangs freier Meinungsäußerung sei die Äußerung einer abschätzigen Meinung unzulässig, wenn gemessen an der Eingriffsintensität kein Mindestbestand an tatsächlichen Anknüpfungstatsachen festzustellen sei. Vorliegend fehle es an Anknüpfungstatsachen, die ansatzweise die Meinung belegten, dass der Antragsteller tatsächlich in einem weiten Sinne den Staat ablehne. Die Herausgeberin der Zeitung rügte mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Verletzung ihrer Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG.

BVerfG: Meinungs- und Pressefreiheit verletzt

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Aus der Entscheidung gehe nicht hervor, ob das OLG bedacht habe, dass dem geforderten "Mindestmaß an tatsächlichen Anknüpfungstatsachen" je nachdem, ob die Beschwerdeführerin sich die Äußerung zu eigen macht oder bloß die Einschätzung der Informantin wiedergibt, unterschiedliches Gewicht zukomme. Weiter sei zwar im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass das OLG die Äußerung als Meinungsäußerung einstuft, wohl aber die Begründung, dass der Bericht keine Tatsachen angebe. Meinungsäußerungen müssten grundsätzlich nicht begründet werden, sondern genießen unabhängig davon Grundrechtsschutz, ob sie rational oder emotional, begründet oder grundlos seien. Das BVerfG räumt insofern ein, dass der EGMR auch für Schlussfolgerungen über Beweggründe oder Absichten Dritter als einem Werturteil gleichkommende Erklärungen eine ausreichende Tatsachengrundlage fordere. So mache mache es innerhalb der Abwägung einen Unterschied, ob es sich um eine auf Tatsachen fußende Schlussfolgerung handele oder um eine willkürlich aus der Luft gegriffene Wertung. Den hiernach zu stellenden Anforderungen an eine Tatsachengrundlage werde das OLG aber nicht hinlänglich gerecht, da es zwar einerseits die Richtigkeit der der Berichterstattung zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen nicht in Zweifel stellt, ihnen andererseits aber im Rahmen der Abwägung keine Bedeutung zumisst.

Angebliche "erhöhte Eingriffsintensität" der Äußerung nicht hinreichend begründet

Zudem werde der Schutz der Meinungsfreiheit verkürzt, soweit das OLG der angegriffenen Äußerung eine "erhöhte Eingriffsintensität" beimisst, ohne zu begründen, inwieweit die Einschätzung, der Vorstand lehne "den Staat" ab, überhaupt abschätzig oder geeignet sein soll, ihn in der öffentlichen Wahrnehmung herabzusetzen. Schließlich gehe das OLG zu Unrecht davon aus, dass selbst im öffentlichen Interesse die Verbreitung der Äußerung nur dann gerechtfertigt sei, wenn die Beschwerdeführerin über hinreichende Anknüpfungstatsachen verfügt. Damit entziehe die Entscheidung von vornherein den Informationswert der Berichterstattung jeder Abwägung und verkürze überdies Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf, die bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesellschaftliches Interesse erregenden Beiträgen selbst mit scharfen Äußerungen gebraucht werden darf.

BVerfG, Beschluss vom 09.11.2022 - 1 BvR 523/21

Redaktion beck-aktuell, Miriam Montag, 13. Januar 2023.