BVerfG: Wahlrechtsausschluss von Vollbetreuten und wegen Schuldunfähigkeit untergebrachten Straftätern verfassungswidrig

Die Regelungen zum Wahlrechtsausschluss von Vollbetreuten (§ 13 Nr. 2 BWahlG) und von Straftätern, die wegen Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind (§ 13 Nr. 3 BWahlG), sind verfassungswidrig. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 29.01.2019 entschieden. Die Regelungen verstießen gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und gegen das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (Az.: 2 BvC 62/14).

Ausschlüsse vom Wahlrecht

§ 13 Nr. 2 BWahlG sieht einen Wahlrechtsausschluss von Personen vor, für die ein Betreuer in allen Angelegenheiten nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist. § 13 Nr. 3 BWahlG schließt Personen vom Wahlrecht aus, die sich wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB begangenen Tat gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden.

Wahlprüfungsbeschwerde gegen Wahlrechtsausschlüsse 

Die Beschwerdeführer, die teils dem erst- und teils dem letztgenannten Personenkreis zugehören und deshalb an der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22.09.2013 nicht teilnehmen durften, wendeten sich nach erfolglosem Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl beim Deutschen Bundestag mit ihrer Wahlprüfungsbeschwerde gegen diese Ausschlüsse und rügten einen Verstoß gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.

BVerfG: Wahlrechtsausschluss vollbetreuter Personen verstößt gegen Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl

Das BVerfG hat § 13 Nr. 2 BWahlG für unvereinbar mit dem Grundgesetz, § 13 Nr. 3 BWahlG darüber hinaus für nichtig erklärt. Der Wahlrechtsausschluss vollbetreuter Personen (§ 13 Nr. 2 BWahlG) verstoße gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). Durch den Wahlrechtsausschluss sei die Gewährleistung, dass jeder Staatsbürger sein Wahlrecht in gleicher Weise ausüben könne, betroffen. Dieser Eingriff in den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl sei nicht gerechtfertigt.

Gruppenausschluss bei ungenügender Fähigkeit zur Teilhabe am demokratischen Kommunikationsprozess zwar möglich

Laut BVerfG ist § 13 Nr. 2 BWahlG zwar auf den Schutz eines der Allgemeinheit der Wahl gleichgewichtigen Verfassungsguts gerichtet. Die Regelung ziele auf die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes. Da der Wahlakt integrierende Wirkung nur auf der Basis freier und offener Kommunikation zwischen den Regierenden und den Regierten entfalten könne, könne ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen sei, dass die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen dem Volk und den Staatsorganen nicht in hinreichendem Umfang besteht.

Typisierung anhand Betreuerbestellung aber wegen ungerechtfertigter Ungleichbehandlung unzulässig

Das BVerfG hat aber bereits Zweifel, ob § 13 Nr. 2 BWahlG zur Erreichung dieses Ziels überhaupt geeignet ist. Es lässt diese Frage aber offen, da die Vorschrift jedenfalls die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzliche Typisierung verfehle. Denn sie bestimme den Kreis der von einem Wahlrechtsausschluss nach § 13 Nr. 2 BWahlG Betroffenen ohne hinreichenden sachlichen Grund in gleichheitswidriger Weise. § 13 Nr. 2 BWahlG schließe eine Person vom Wahlrecht aus, wenn diese nicht nur krankheits- oder behinderungsbedingt unfähig ist, alle ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen, sondern wenn darüber hinaus aus diesem Grund ein Betreuer in allen Angelegenheiten bestellt wurde.

Betreuerbestellung vom Zufall abhängig

Das BVerfG weist darauf hin, dass aufgrund des im Betreuungsrecht durchgängig geltenden Erforderlichkeitsgrundsatzes eine Betreuerbestellung unterbleibe, soweit der Betreuungsbedürftigkeit des Betroffenen auf andere Weise, insbesondere durch die Erteilung einer Betreuungs- oder Vorsorgevollmacht oder hinreichende Versorgung im Familienkreis, Rechnung getragen werden könne. In diesem Fall sei § 13 Nr. 2 BWahlG nicht anwendbar und das Wahlrecht bleibe erhalten. Letztlich sei der Wahlrechtsentzug damit davon abhängig, ob wegen des Vorliegens eines konkreten Betreuungsbedarfs die Bestellung eines Betreuers erfolgt oder ob diese aufgrund fehlender Erforderlichkeit unterbleibt. Dieser im Tatsächlichen von Zufälligkeiten abhängige Umstand stelle aber keinen sich aus der Natur der Sache ergebenden Grund dar, der geeignet sei, die wahlrechtliche Ungleichbehandlung gleichermaßen Betreuungsbedürftiger zu rechtfertigen.

Typisierung nicht aus Praktikabilitätserwägungen gerechtfertigt

Demgegenüber könne auch nicht geltend gemacht werden, der Gesetzgeber knüpfe mit seiner Entscheidung an ein streng formales Merkmal an, das klar, einfach feststellbar und bei der Organisation von Wahlen besonders praktikabel sei, erläutert das BVerfG weiter. Zwar sei der Gesetzgeber berechtigt, die Durchführbarkeit der Massenveranstaltung Wahl durch typisierende Regelungen sicherzustellen, die nicht allen Besonderheiten Rechnung tragen müssten. Der Gesetzgeber müsse solchen verallgemeinernden Regelungen aber realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen. Zudem müssten die Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit ihr notwendig verbundenen Ungleichheit stehen. Voraussetzung hierfür sei, dass die durch die Typisierung eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar seien, lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen beträfen und das Ausmaß der Ungleichbehandlung gering sei.

81.220 Vollbetreute bei Bundestagswahl 2013 von Ausschluss betroffen

Dies verneint das BVerfG im vorliegenden Fall. Laut BVerfG waren bei der Bundestagswahl 2013 insgesamt 81.220 Vollbetreute von einem Wahlrechtsausschluss gemäß § 13 Nr. 2 BWahlG betroffen. Welchen Anteil dieser Personenkreis an der Gesamtzahl der Personen habe, die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten nicht in der Lage seien, sei nicht feststellbar. Auch der Gesetzgeber habe sich mit dieser Frage nicht befasst. Es erscheine nicht ausgeschlossen, dass die Gruppe der umfassend Betreuungsbedürftigen, bei der mangels Erforderlichkeit eine Betreuerbestellung unterbleibe, nicht wesentlich kleiner oder sogar größer sei als die Gruppe der vom Wahlrecht ausgeschlossenen Vollbetreuten. Der Eingriff in den Gleichheitssatz sei dabei auch nicht geringfügig, da den Betroffenen durch den Wahlrechtsausschluss das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat dauerhaft entzogen wird.

Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung verletzt

Neben der Verletzung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl hat das BVerfG auch einen Verstoß gegen das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG moniert. Die Regelung in § 13 Nr. 2 BWahlG führe zu einer Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen. Dieser Eingriff in den Regelungsgehalt des Schlechterstellungsverbots gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sei aus den vorstehenden Gründen nicht gerechtfertigt.

Ausschluss wegen Schuldunfähigkeit untergebrachter Straftäter verstößt ebenfalls gegen Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl

§ 13 Nr. 3 BWahlG verstößt dem BVerfG zufolge ebenfalls gegen verfassungsrechtliche Anforderungen. Der Ausschluss des Wahlrechts von Personen, die sich aufgrund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus befänden, sei nicht mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) vereinbar. Der Eingriff durch den Wahlrechtsausschluss in dessen Regelungsgehalt sei nicht gerechtfertigt.

Kein regelmäßiger Gleichlauf von Schuldunfähigkeit und wahlrechtlicher Entscheidungsunfähigkeit

Das BVerfG hält § 13 Nr. 3 BWahlG bereits für nicht geeignet, Personen zu erfassen, die typischerweise nicht über die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess verfügen. Weder die Feststellung der Schuldunfähigkeit zum Tatzeitpunkt und die ihr zugrundeliegenden Krankheitsbilder gemäß § 20 StGB noch das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen für die Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB erlaubten den Rückschluss auf das regelmäßige Fehlen der für die Ausübung des Wahlrechts und die Erfüllung der Integrationsfunktion der Wahl erforderlichen Einsichtsfähigkeit. Nach § 20 StGB handle ohne Schuld, wer bei der Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig sei, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Dass unter diesen Voraussetzungen zugleich typischerweise vom Fehlen der für die Ausübung des Wahlrechts erforderlichen Einsichtsfähigkeit ausgegangen werden könne, erschließe sich nicht, da die zur Begründung der Schuldunfähigkeit geeigneten Krankheitsbilder nicht regelmäßig mit der Unfähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess verbunden sind. Hinzu komme, dass "Schuldunfähigkeit" im Sinne von § 20 StGB kein dauerhafter und deliktsunabhängiger Zustand sei, sondern allein die geistige Verfassung einer Person bei Begehung der Tat beschreibe. Auch die in § 63 StGB vorausgesetzte länger andauernde und in die Zukunft reichende Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Gesundheit ändere nichts an dem Befund, dass die der Feststellung derartiger Beeinträchtigungen zugrundeliegenden Krankheitsbilder ungeeignet sind, die Annahme regelmäßig vorliegender wahlrechtlicher Entscheidungsunfähigkeit zu begründen.

Typisierung ebenfalls wegen ungerechtfertigter Ungleichbehandlung unzulässig

Außerdem führt laut BVerfG auch § 13 Nr. 3 BWahlG zu Ungleichbehandlungen, für die sachliche Gründe nicht ersichtlich seien. Im Ergebnis werde der Kreis der Regelungsbetroffenen in willkürlicher, die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess unzureichend berücksichtigender Weise bestimmt. So bleibe das Wahlrecht erhalten, wenn von der Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur deshalb abgesehen wird, weil von dem Schuldunfähigen keine Gefahr erheblicher Straftaten ausgeht. Dabei sei in solchen Fällen aber nicht auszuschließen, dass die wahlrechtliche Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit in gleichem oder gar höherem Umfang eingeschränkt ist als bei einem gemäß § 13 Nr. 3 BWahlG vom Wahlrecht Ausgeschlossenen. Gleiches gelte in Fällen der Unterbringung strafrechtlich nicht in Erscheinung getretener Personen wegen Fremd- oder Selbstgefährdung nach den jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften. Auch in diesen Fällen bleibe, obwohl vergleichbare Diagnosen vorliegen könnten, das Wahlrecht unangetastet. Werde in Fällen, in denen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus neben einer Freiheitsstrafe angeordnet werde, durch das zuständige Gericht gemäß § 67 Abs. 2 StGB bestimmt, dass die Strafe ganz oder teilweise vor der Maßregel zu vollziehen ist, bleibe das Wahlrecht bei unveränderter Einsichtsfähigkeit zunächst bestehen und entfalle erst mit Beginn des Maßregelvollzugs, ohne dass dafür eine wahlrechtlich tragfähige Begründung erkennbar wäre. Schließlich lebe das Wahlrecht eines schuldunfähigen, in der Psychiatrie Untergebrachten wieder auf, wenn er gemäß § 67a StGB nachträglich in eine Entziehungsanstalt überwiesen wird. Werde er allerdings anschließend wieder in ein psychiatrisches Krankenhaus zurücküberwiesen, entfalle das Wahlrecht von neuem.

Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung verletzt

Schließlich verstoße auch § 13 Nr. 3 BWahlG gegen das Verbot einer Benachteiligung wegen einer Behinderung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Der Wahlrechtsausschluss von Personen, die wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Straftat in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht seien, entziehe Menschen mit Behinderungen das zentrale demokratische Mitwirkungsrecht. Dieser Eingriff in den Schutzgehalt von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sei aus den dargelegten Gründen nicht gerechtfertigt.

BVerfG, Beschluss vom 29.01.2019 - 2 BvC 62/14

Redaktion beck-aktuell, 21. Februar 2019.

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