Vollstreckungsaufschub bei Haftuntauglichkeit

Das Bundesverfassungsgericht hat der Verfassungsbeschwerde eines psychisch kranken alten Mannes gegen seine Inhaftierung stattgegeben. Bei Vorliegen ernst zu nehmender Anhaltspunkte für gravierende Gesundheitsgefahren müsse vor seiner Inhaftierung zumindest eine umfassende Aufklärung seines Zustandes erfolgen. Es sei vollkommen unzureichend, sich einfach auf die Stellungnahme eines Anstaltsarztes zu stützen, der den Mann noch nicht einmal gesehen habe.

Zu krank für die Haft?

Ein Mann, 73 Jahre alt, wurde 2017 vom Landgericht Essen wegen mehrfacher Untreue zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Nach überwiegend erfolgloser Revision erhielt er ein Jahr später die Ladung zum Haftantritt. Als er aus medizinischen Gründen um Strafaufschub bat, schickte ihn die Staatsanwaltschaft zunächst zum Amtsarzt, um seine Hafttauglichkeit überprüfen zu lassen. Dieser kam zu dem Schluss, dass er wegen einer mittelgradigen Depression und einer eventuellen Demenzerkrankung nicht haftfähig sei. Das Gesundheitsamt bestätigte nach Beiziehung eines psychiatrischen Gutachters die Haftuntauglichkeit wegen einer psychiatrischen Erkrankung und auch wegen seines körperlichen Zustands, insbesondere seines Herzens. Der Psychiater des Amts bescheinigte eine Geisteskrankheit im Sinne von § 455 Abs. 1 StPO, weil die Depression als "psychosenah" zu betrachten sei. Eine genaue Diagnostik müsse aber in einer Fachklinik erfolgen - das Justizvollzugskrankenhaus sei dafür nicht geeignet. Der Mann legte noch weitere ärztliche Befunde vor, in denen seine Demenz genauer beschrieben wurde. Sie bescheinigten eine Korrelation zwischen seinen körperlichen und psychischen Gebrechen in Form einer gegenseitigen Aggravation.  Der Arzt der Justizvollzugsanstalt sah das anders: Er habe den Mann zwar nicht gesehen, aber nach Aktenlage gehe er von dessen Hafttauglichkeit aus. Auf die erneute Ladung hin kämpfte der Verurteilte noch vergeblich vor dem Landgericht Essen und dem Oberlandesgericht Hamm gegen seine Inhaftierung, bevor er sich dann aus der JVA erfolgreich an das Bundesverfassungsgericht wandte.

Verletzung der körperlichen Unversehrtheit in Verbindung mit der Menschenwürde

Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig und offensichtlich begründet, so die 1. Kammer des Zweiten Senats. In der Abwägung zwischen der Pflicht des Staats, seinen Strafanspruch durchzusetzen, und dem Grundrecht des alten Mannes auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG haben sich dem BVerfG zufolge Anhaltspunkte dafür aufgedrängt, dass hier eine Ausnahmesituation nach § 455 StPO vorliege, die die Vollstreckung der Haft verbiete, weil sie eine schwere Gesundheitsgefahr für den Verurteilten in sich birgt. Daher hätten die Staatsanwaltschaft und auch die Strafvollstreckungskammer den Sachverhalt weiter aufklären müssen und sich nicht allein auf die Stellungnahmen eines Anstaltsarztes stützen dürfen, der den kranken Mann noch nicht einmal selbst untersucht habe. Das BVerfG hob die Entscheidungen der Fachgerichte auf und verwies die Sache an die Staatsanwaltschaft zurück.

BVerfG, Beschluss vom 05.07.2022 - 2 BvR 2061/19

Redaktion beck-aktuell, 27. Juli 2022.