Verstoß gegen prozessuale Waffengleichheit durch einstweilige Anordnung ohne Anhörung
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Einstweilige Verfügungen (hier in einer Pressesache) dürfen grundsätzlich nicht ohne Anhörung der Gegenseite erlassen werden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht erneut unterstrichen und einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit stattgegeben. Das BVerfG rügt, dass die Fachgerichte wiederholt gegen die prozessuale Waffengleichheit verstießen, in diesem Fall das Landgericht Berlin.

Presserechtliche Unterlassungsverfügung ohne vorherige Anhörung erlassen

Im September 2020 berichtete der Presseverlag über die Feier eines Richtfestes für das im Bau befindliche Anwesen der prominenten Antragstellerin des Ausgangsverfahrens. Auf mehreren Fotos waren neben der Antragstellerin und ihrem Lebensgefährten der Rohbau des Hauses und die Gäste bei der Feierlichkeit zu sehen. Die Berichterstattung befasste sich unter anderem kritisch mit der Art und Weise der Durchführung der Feier während der aktuellen Corona-Pandemie. Die Antragstellerin mahnte die Beschwerdeführerin hinsichtlich bestimmter Teile der Wortberichterstattung sowie der gesamten Bildberichterstattung ab und forderte die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung. Die Beschwerdeführerin wies die geltend gemachten Ansprüche zurück. Im Oktober 2020 stellte die Antragstellerin beim LG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Vor dem Erlass der Verfügung ergingen mehrere gerichtliche Hinweise der zuständigen Pressekammer des LG an die Antragstellerin, infolge derer sie ihren Vortrag ergänzte und die Anträge teilweise zurücknahm, ohne dass die Beschwerdeführerin hiervon Kenntnis hatte oder ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt worden war. Das LG erließ anschließend "wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung" die angegriffene einstweilige Untersagungsverfügung, die der Beschwerdeführerin am 07.12.2020 zugestellt wurde. Am 08.12.2020 baten die Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin das LG um Übersendung etwaiger gerichtlicher Schreiben oder Aktennotizen in der vorliegenden Sache. Die Unterlagen gingen erst am 05.01.2021 bei den Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin ein. Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung ihres Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit sowie ihrer Rechte aus Art. 5 Abs. 1 GG.

BVerfG erneut verärgert - Einseitiges Geheimverfahren unzulässig

Das BVerfG rügt einen offenkundigen Verstoß des LG gegen das Gebot der prozessualen Waffengleichheit. Es ist erneut verärgert über den wiederholten Verstoß der Fachgerichte gegen dieses Gebot und weist erneut auf die rechtliche Bindungswirkung der BVerfG-Entscheidungen hin. Es erläutert erneut die Anforderungen des Gebots der Waffengleichheit an das gerichtliche Verfahren bei einstweiligen Anordnungen dar und betont, dass eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen entbehrlich sei. Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag komme grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern. Gehör sei insbesondere auch zu gewähren, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfahre. Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschten, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, sei mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar. 

Gerichtliche Hinweise erst Wochen nach Verfügungserlass mitgeteilt

Nach diesen Maßstäben verletze der angegriffene Beschluss die Beschwerdeführerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit. Durch Erlass der einstweiligen Verfügung ohne jegliche Einbeziehung der Beschwerdeführerin sei vorliegend keine Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber der Verfahrensgegnerin gewährleistet worden. Das LG habe sich im Rahmen seiner schriftlichen Hinweise allein gegenüber der Antragstellerin zu seiner vorläufigen Rechtsauffassung in der Sache geäußert. Die Beschwerdeführerin hingegen habe erst nach Erlass der sie belastenden einstweiligen Verfügung erfahren, dass ein Verfahren anhängig war und dass das Gericht Hinweise erteilt hatte. Auch eine Gelegenheit, sich zum weiteren Vorbringen der Antragstellerin zu äußern, sei ihr nicht gegeben worden. Erschwerend komme in dem Fall hinzu, dass das LG der Beschwerdeführerin erst nach mehrmaliger Nachfrage und zudem acht Wochen nach Erlass der gegen sie gerichteten einstweiligen Verfügung die gerichtlichen Hinweise zukommen ließ, sodass der Beschwerdeführerin erst ab diesem Zeitpunkt das gesamte Prozessgeschehen bekannt war. Vorliegend wäre die Einbeziehung der Beschwerdeführerin durch das Gericht vor Erlass der Verfügung offensichtlich geboten gewesen.

BVerfG, Beschluss vom 11.01.2022 - 1 BvR 123/21

Redaktion beck-aktuell, 16. März 2022.