BVerfG: Verlustabzugsbeschränkung bei Kapitalgesellschaften nach § 8c Satz 1 KStG a. F. verfassungswidrig

Die Beschränkung des Verlustabzugs bei Kapitalgesellschaften im Fall eines schädlichen Anteilseignerwechsels in § 8c Satz 1 KStG in der Fassung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 29.03.2017 entschieden. Gleiches gelte für die wortlautidentische Regelung in § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG in ihrer bis zum 31.12.2015 geltenden Fassung. Der Gesetzgeber muss nun bis Ende 2018 rückwirkend für die Zeit vom 01.01.2008 bis zum 31.12.2015 eine Neuregelung treffen (Az.: 2 BvL 6/11).

Kapitalgesellschafter überträgt seinen Anteil auf Dritten

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine im Jahr 2006 gegründete Kapitalgesellschaft mit zwei Gesellschaftern. Die Geschäftsjahre 2006 und 2007 schloss die Gesellschaft jeweils mit einem Verlust ab. Der festgestellte Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer zum 31.12.2007 betrug 594.769 Euro. 2008 erwirtschaftete die Gesellschaft einen Gewinn, bevor sie am Ende dieses Jahres wegen der Kündigung eines Kooperationspartners ihre Liquidation beschloss. Während ihrer Tätigkeit zwischen 2006 und 2008 erlitt die Gesellschaft einen Gesamtverlust von 588,24 Euro. Anfang 2008 hatte einer der beiden Gesellschafter aufgrund der Befürchtung, dass wegen einer gegen ihn gerichteten Schadensersatzforderung in seinen Geschäftsanteil an der Klägerin vollstreckt werden könnte, diesen Anteil an einen Dritten übertragen.

Finanzamt kürzt anteilig Verluste wegen schädlichen Beteiligungserwerbs

Deshalb kürzte das Finanzamt bei der Körperschaftsteuerveranlagung der Gesellschaft für 2008 gemäß § 8c Satz 1 KStG a. F. die zum 31.12.2007 verbleibenden Verluste um den prozentual auf diesen Gesellschafter entfallenden Anteil und setzte die Körperschaftsteuer für das Jahr 2008 in Höhe von 43.085 Euro fest. Mit der nach erfolglosem Einspruchsverfahren beim Finanzgericht Hamburg erhobenen Klage berief sich die Klägerin auf die Verfassungswidrigkeit von § 8c KStG in der Fassung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008. Das Finanzgericht Hamburg setzte das Verfahren aus und legte dem BVerfG die Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 8c Satz 1 KStG a. F. (jetzt: § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG) zur Entscheidung vor. Nach dieser Regelung fällt der Verlustvortrag einer Kapitalgesellschaft anteilig weg, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25% und bis zu 50% der Anteile übertragen werden (schädlicher Beteiligungserwerb).

BVerfG: Verlustabzugsbeschränkung verstößt gegen allgemeinen Gleichheitssatz

Das BVerfG hat § 8c Satz 1 KStG a. F. für verfassungswidrig erklärt, soweit der Verlustabzug für Kapitalgesellschaften bei einer Anteilsübertragung von mehr als 25% bis zu 50% beschränkt wird. Die Regelung sei mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. § 8c Satz 1 KStG a. F. behandele Kapitalgesellschaften hinsichtlich der Bestimmung ihrer steuerpflichtigen Einkünfte unterschiedlich je nachdem, ob ein schädlicher Beteiligungserwerb vorliegt oder nicht. Für diese Ungleichbehandlung fehle es an einem sachlich einleuchtenden Grund. Dabei könne offenbleiben, ob hier Gründe für eine eher strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung der gesetzgeberischen Differenzierung zwischen Kapitalgesellschaften mit schädlichem Beteiligungserwerb und ohne einen solchen vorliegen. Denn laut BVerfG hält § 8c Satz 1 KStG a. F. schon einer Prüfung am Maßstab des Willkürverbots nicht stand.

Typisierung nicht zum Zweck der Missbrauchsvermeidung gerechtfertigt

Zwar sei das Ziel der Bekämpfung von legalen, jedoch unerwünschten Steuergestaltungen, insbesondere des Handels mit vortragsfähigen Verlusten (sogenannter Mantelkauf), ein legitimer Zweck, der Ungleichbehandlungen im Sinn von Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen könne, so das BVerfG weiter. Allerdings seien die Grenzen zulässiger Typisierung überschritten, wenn zur Erfassung solcher Gestaltungen allein an die Übertragung eines Anteils von mehr als 25% angeknüpft wird. Dieser Umstand indiziere für sich genommen nicht eine missbräuchliche Gestaltung, weil es für die Übertragung einer derartigen Beteiligung an einer Verlustgesellschaft vielfältige Gründe geben könne, die nicht regelmäßig darin bestünden, die Verluste für ein anderes Unternehmen des neuen Anteilseigners nutzbar zu machen. Mit § 8c Satz 1 KStG a. F. habe der Gesetzgeber damit keinen typischen Missbrauchsfall als Ausgangspunkt für eine generalisierende Regelung gewählt. Vielmehr habe er eine abstrakte Missbrauchsgefahr zum Anlass für eine vom typischen Missbrauchsfall losgelöste und über diesen hinausgehende generelle Verlustnutzungsregelung für Körperschaften genommen.

Typisierung nicht durch bezweckte Abzugsbeschränkung beim Verlust der wirtschaftlichen Identität einer Gesellschaft gerechtfertigt

Auch die angestrebte Beschränkung von Verlustabzügen beim Verlust der wirtschaftlichen Identität einer Gesellschaft rechtfertige die Typisierung nicht, so das BVerfG weiter. Wie das Gericht ausführt, sei der Gesetzgeber bei der Regelung des § 8c KStG a. F. davon ausgegangen, dass sich die wirtschaftliche Identität einer Gesellschaft durch das wirtschaftliche Engagement eines anderen Anteilseigners (oder Anteilseignerkreises) ändere und die in früherer Zeit erwirtschafteten Verluste unberücksichtigt bleiben sollten, soweit sie auf dieses neue wirtschaftliche Engagement entfielen. Der Vorschrift liege der im Steuerrecht anerkannte Grundsatz zugrunde, dass beim steuerlichen Verlustabzug dasjenige Steuersubjekt, das den Verlustabzug nutzen wolle, mit demjenigen Steuersubjekt identisch sein müsse, das den Verlust erlitten habe. Der Gesetzgeber habe jedoch die Grenzen seiner Typisierungsbefugnis überschritten, soweit er eine Änderung der wirtschaftlichen Identität allein mit der Voraussetzung habe definieren und normativ erfassen wollen, dass innerhalb von fünf Jahren mittelbar oder unmittelbar mehr als 25% und bis zu 50% der Anteile an einer Kapitalgesellschaft an einen Erwerber oder diesem nahe stehende Personen übertragen werden.

Identitätswechsel bei Anteilsübertragung von mehr als 25% bis zu 50% nicht nachvollziehbar

Laut BVerfG begründet der Erwerb einer solchen Beteiligung gesellschaftsrechtlich zwar eine Sperrminorität. Diese erlaube aber allenfalls mittelbar ein aktives Gestalten der Entscheidungen durch den Minderheitsgesellschafter. Nur eine Mehrheitsbeteiligung ermögliche es dem Anteilserwerber, auf die Kapitalgesellschaft unmittelbar maßgebend Einfluss zu nehmen und die Verluste durch entsprechende unternehmerische Entscheidungen zu eigenen Zwecken zu nutzen. Weder aus der Gesetzesbegründung noch aus sonstigen Gründen sei ersichtlich, warum bei Übertragung von mehr als 25% bis zu 50% der Anteile im Regelfall von einer Identitätsänderung auszugehen sei. Mit diesem Merkmal würden auch und nicht nur in einem Randbereich Fälle erfasst, in denen Betriebsvermögen, Unternehmensgegenstand und Geschäftsbetrieb von der Anteilsübertragung nicht berührt werden und nicht verändert werden sollen. Es verfehle in diesen Fällen den Normzweck der Erfassung von Änderungen der wirtschaftlichen Identität einer Kapitalgesellschaft und sei deshalb als alleiniges Typisierungsmerkmal ungeeignet.

Gedanke der Unternehmeridentität als Abzugsvoraussetzung ebenfalls kein Rechtfertigungsgrund

Ein sachlicher Grund für die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung ergibt sich für das BVerfG auch nicht aus dem Gedanken der Unternehmeridentität als Voraussetzung für den Verlustabzug und einer Annäherung an die Besteuerung von Personengesellschaften, die nach dem Transparenzprinzip als eine solche der Gesellschafter erfolge. Dem Gesetzgeber sei es - in Übereinstimmung mit seiner grundlegenden Entscheidung für die Besteuerung der Körperschaft als solcher - auf die Identität der Gesellschaft angekommen, nicht auf diejenige der Gesellschafter. Der Wechsel der Anteilseigner sei nur der Maßstab für eine Änderung der (wirtschaftlichen) Identität der Gesellschaft. In ihrer Wirkung treffe die Regelung des § 8c Satz 1 KStG a. F. nicht nur den ausscheidenden, sondern - anders als beim Anteilseignerwechsel in der Personengesellschaft - auch die verbleibenden Altgesellschafter, weil die quotale Kürzung des Verlustabzugs wegen der eigenen Steuerpflicht der Körperschaft ebenso auf ihrem Gewinnanteil lastet. Zudem gehe auf Seiten des ausscheidenden Gesellschafters der Verlustabzug - anders als beim ausscheidenden Personengesellschafter und beim Einzelunternehmer, der sein Unternehmen veräußere - endgültig unter.

Auch Nachfolgeregelungen bis zum Inkrafttreten von § 8d KStG verfassungswidrig

Laut BVerfG treffen die Gründe, die zur Verfassungswidrigkeit von § 8c Satz 1 KStG in der Fassung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 führen, auf die damit wortlautidentischen nachfolgenden Fassungen von § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG bis zum Inkrafttreten des mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften vom 20.12.2016 eingefügten § 8d KStG ebenso zu. Ob durch Einführung von § 8d KStG mit Wirkung vom 01.01.2016 der Anwendungsbereich von § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG in einer Weise reduziert worden sei, dass die Norm nunmehr den Anforderungen von Art. 3 Abs. 1 GG genügt, bedürfe einer gesonderten Prüfung. Sie sei deshalb nicht mehr ohne Weiteres aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz unvereinbar wie vor dem Inkrafttreten von § 8d KStG, so dass eine Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung über diesen Zeitpunkt hinaus nicht in Betracht kommt.

Gesetzgeber muss Verlustabzug bis Ende 2018 rückwirkend neu regeln

Das BVerfG hat dem Gesetzgeber auferlegt, bis zum 31.12.2018 rückwirkend für die Zeit vom 01.01.2008 bis zum 31.12.2015 den festgestellten Verfassungsverstoß zu beseitigen. Anderenfalls trete am 01.01.2019 im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit rückwirkend auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens die Nichtigkeit von § 8c Satz 1 KStG a.F. (jetzt § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG) ein.

BVerfG, Beschluss vom 29.03.2017 - 2 BvL 6/11

Redaktion beck-aktuell, 12. Mai 2017.

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