Verletzung des Rechts auf Waffengleichheit trotz vorprozessualer Stellungnahmefrist

Grundsätzlich kann ein Gericht in Eilverfahren auf eine Anhörung des Gegners verzichten, wenn dieser vorprozessual Gelegenheit hatte, zur Abmahnung Stellung zu nehmen. Das Bundesverfassungsrecht hat jedoch nochmals betont, dass dies nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist. Die Entscheidung reiht sich in eine Kette von Entscheidungen zu presserechtlichen Eilverfahren ein, bei denen das BVerfG zur Wahrung der Waffengleichheit eingegriffen hat.

Zeigen Flughafenmitarbeiter die IS-Geste?

Ein Medienunternehmen wehrte sich gegen den Erlass einer einstweiligen Verfügung durch das Landgericht Berlin. Hintergrund war eine Berichterstattung digital und in Print vom 22.07.2022 über drei Gepäckmitarbeiter des Flughafens Düsseldorf. Die Männer hatten nebeneinanderstehend in Richtung eines Passagierflugzeugs jeweils mit einem in Kopfhöhe gehaltenen Zeigefinger in den Himmel gezeigt. Die Veröffentlichung eines Bildes hiervon löste ein erhebliches Medienecho aus, da die Geste verbreitet als Sympathieerklärung für den sogenannten Islamischen Staat (IS) gewertet wurde: "Direkt an den URLAUBSFLIEGERN in (…)", "ISLAMISTEN arbeiten am Flughafen!" oder "Mit ISIS-Finger auf dem Rollfeld des Flughafens (…): die drei islamistischen Gefährder" lauteten zwei der Schlagzeilen in der bundesweit erscheinenden Zeitschrift. In der Folge berichtete der Verlag weiter über den Fall.

LG erlässt einstweilige Verfügung gegen Berichterstattung

Am 03.08.2022 beziehungsweise am 05.08.2022 verlangten zwei der Aufgenommenen die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung bis spätestens zum 08.08.2022 um 18 Uhr. Sie kündigten an, ansonsten unmittelbar das Gericht einzuschalten. Nachdem sie keine Reaktion erhalten hatten, beantragten sie am 17.08.2022 beim LG Berlin den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Berichterstattung. Am 18.08.2022 wurde diese ohne Anhörung des Presseunternehmens erlassen. Das Medienhaus legte Verfassungsbeschwerde ein - mit Erfolg.

BVerfG: Kumulativ notwendige Voraussetzungen

Das BVerfG hat die Wirkung der Verfügung zunächst ausgesetzt. Nach Ansicht der 1. Kammer des Ersten Senats wäre das LG Berlin verpflichtet gewesen, dem Verlag Gelegenheit zur Äußerung zu geben. So sei das grundrechtsrechtsgleiche Prozessrecht auf Waffengleichheit aus Art. 3 iVm Art. 20 GG verletzt worden. Grundsätzlich sei es zwar möglich, dass bereits eine vorprozessuale Möglichkeit, sich zur Abmahnung zu erklären, ausreiche, um eine direkte Entscheidung des Gerichts zu rechtfertigen. Dafür müssten aber zwingend bestimmte Voraussetzungen eingehalten werden: So müsse der Antrag unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung eingereicht werden. Der Inhalt der abgemahnten Äußerung sowie die Begründung für die gewünschte Unterlassung müssten zudem im Vergleich von Abmahnung und Antragsschrift identisch sein. Schließlich sei ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Gegners mit bei Gericht einzureichen. Die Kammer unter Leitung des BVerfG-Präsidenten Stephan Harbarth hatte bereits Zweifel, ob die Einreichung am 17.08.2022 noch unverzüglich war. Ausschlaggebend war für sie jedoch die Tatsache, dass gegenüber dem Gericht zusätzliche Angaben zur Motivlage abgegeben worden waren, die im Abmahnschreiben noch nicht enthalten gewesen waren.

BVerfG, Beschluss vom 27.10.2022 - 1 BvR 1846/22

Michael Dollmann, Mitglied der NJW-Redaktion, 17. November 2022.